DIE KUNST DER WUNDE im Mülheim a. d. Ruhr

EIN WUST OHNE KUNDE

Eine Gummizelle im Knast kenne ich nicht wirklich, aber irgendwie assoziiert sie die rundherum und am Boden dick gepolsterte weiße Lamellenausstattung der Bühne in Mülheim. Später, wenn die fünf „SPRACHSPRECHINSTANZEN“ – so nennt Katja Brunner ihre schauspielenden Figuren - wenn die drei weiblichen und zwei männlichen Instanzen in bizarren Stepp-Kostümen auf den aufgeblasenen Kissen herumspringen und sich gegen die Wände werfen, könnte das Ganze auch eine Hüpfburg sein. Doch keins von beiden ist gemeint: als die Figuren aus diversen Spalten zwischen den Kissen auftauchen, horchen sie angespannt in den Boden hinein und fragen in den Raum: „Atmet der –Wer – Na der Stein – Landläufig nennt man das Fels – Ich glaub schon – Fühl’ ihm mal den Puls – Dem Fels – Ja dem Felsen“. Die Plastik-Lamellen geben hier also einen atmenden Felsen und das Ambiente könnte ein Krankenhaus, die Sprecher medizinisches Personal sein. Wir hören noch von Wundbrand, knackenden Knochen, Tripper und dem Gedächtnis des Körpers. Will heißen, dass „ die Gewalt, die deine Elternwelt anderen antat, in deinem Körper fortlebt. Todesurteil - Buße“. Kurz darauf: „Todesurteil – Busse“. Und schon ändert sich die Situation: Während die Fünf mit erhobenen Fäusten der Welt zu drohen scheinen, sitzen sie gedanklich plötzlich in der Bahn (nicht im Bus) und die erhobene Faust bedeutet nichts als das pantomimische Festhalten an der Stange. Und doch fühlen sie sich bedroht, kontrolliert: „Schau wie sie gucken, guck wie sie schauen“. Der Satz zieht sich durch das Stück. Dabei ändern sich sprunghaft die Situationen, meist geht es um das gefährdete Individuum in der Gesellschaft, mal um Erziehung, mal um Lohnarbeit oder häusliche Gewalt unter dem makabren Titel „Ratschläge für fleißige Hausfrauen“.

Irgendwann stehen die Fünf maskiert oben über der Bühnenrückwand und beginnen auf die Frage, „woraus der Staat gemacht ist“, mit einer Endlos -Auflistung aller erdenklichen Begriffe. War es im ersten Teil der Textfläche eher ein essayistischer Sprechtext, so reihen sich jetzt die paradoxesten Fakten, Tatsachen und Ereignisse als Wortkaskaden aneinander. Kuriose Wortspiele lockern das Ganze auf oder schaffen ernsthafte Übergänge wie z.B. von Mangel zu Mengele oder von „Dichter und Denker“ zu „Richter und Henker“. Da stehen neben den Büronadeln die Waisen und Weisen und später die Namen der neun Toten des rechtsextremen Anschlags von 2020 in Hanau. Auf diese sprachliche, folgt eine körperliche Akrobatik: die Fünf stürzen sich die meterhohe Wand hinunter.

Zum Schluss gibt’s dann tatsächlich noch einen wirklichen Dialog zwischen Mutter Martha und Sohn Kevin – für diese eine Szene erhalten zwei Figuren Namen und Rollen - es geht wiederum um einen Stein, den Kevin mit dem Stift-Anspitzer der Lehrerin zu einer Speerspitze verarbeiten will. Wobei sich im gesamten Text die Bedeutung des Steins, des Felsen, nicht entschlüsselt: es bleibt ein Bild für die Unerklärbarkeit gängiger Wissenschaftsbegriffe.

Eine Unmenge Situationen werden angerissen, doch auf der Bühne werden sie nicht bebildert. Die agierenden „Ichs“ nehmen nicht Gestalt an, die angerissenen Probleme finden nicht zu einer Handlung zusammen. Die Sprache fasziniert, sie changiert zwischen Kunst- und Alltagscode, zwischen privatem und öffentlichem Sprechen. Doch das Repertoire an Posen und Gesten, die die Regisseurin Katrin Plötner dazu bereithält, erschöpft sich dann doch irgendwann und findet nicht zum Text. Musikalische Einspielungen und Lichteffekte untermalen die Stimmungen, doch es bleibt ein SPRACH-Kunstwerk, es regt das Denken, nicht aber die Sinne an.

Der Titel ist - ganz im Stil des Stücks - ein Wortspiel: Die Kunst der Wunde spielt mit der Gunst der Stunde. Die Wunde, der Katja Brunner, die Schweizer Autorin, sprachkünstlerisch nachspürt, ist nach ihren eigenen Worten die „Verfasstheit der absturzgefährdeten Mittelschicht“, die sie dem Repräsentationsdruck im Sprechen ausgeliefert sieht. Dieses Anliegen hat sich mir in der Aufführung nicht vermittelt.

Das Publikum spendete den fünf „Sprachsprechinstanzen“ Anne Cathrin Buhtz, Denis Grafe, Eidin Jalali, Dirk Lange und Katharina Schmidt sowie der anwesenden Autorin langanhaltenden Applaus.