Von der Sehnsucht nach dem richtigen Leben
Eine große schwarze Bühne, hinten quer über die ganze Breite eine mehr als mannshohe riesige Stahlwalze, schwach vom Bühnenrand her angestrahlt. Irgendwann erscheinen oben drauf zwei Figuren mit Schwimmbewegungen, das Saallicht bleibt an, das Spiel beginnt, irgendwie sind wir einbezogen.
Die beiden Schwimmer landen auf der Bühne, da sind zwei Kinder, Charlotte und Felix, wie wir etwas später erfahren zehn und elf Jahre alt. Wie sie da aus dem Meer kommen und frieren, glauben wir den grandiosen Bühnenzauberern Ursina Lardi und Devid Strieow ihr Kindsein ohne weiteres, doch schon bald müssen wir umdenken: die beiden beginnen das von ihnen so geliebte „Mama-Papa-Spiel“. Im Spiel im Spiel sind also die Großen die Kleinen, die die Großen spielen. Die Eltern sind tot, waren aber wohl originelle Menschen, Bezeichnungen wie „Saufziege“, „Spritzbacke“, und „toller Arsch“ fallen da. Doch wenn die Charlotte-Mama meint, dass „Felix optisch nicht viel hergibt“, fällt Felix kurz aus der Papa-Rolle und wir sehen das entsetzte und beleidigte Gesicht des Super-Komikers Devid Striesow als gekränkten Jungen. Auch wenn sie die Kuss-Szenen der Eltern nachspielen wollen, müssen sie es erst üben und sind mehr die Kinder als die Eltern. Dann will Charlotte nicht mehr, das Spiel greift sie an. Sehnsucht nach verlorener Liebe und Zuwendung gewinnen die Oberhand.
Es folgen viele höchst unterschiedliche Bilder, die Stimmungen wechseln. Die Walze ist leicht nach vorne gerollt und Charlotte trägt jetzt eine lange Jacke überm Bikini und Stiefeletten: Sie ist älter geworden und hält einen Roman in der Hand. Vielleicht sind das, was folgt, Geschichten daraus - oder Träume? Beide Begriffe fallen.
Ein todtrauriger Taucher (hinreißend: Sebastian Blomberg) tritt auf, der zu lange bei den Fischen unter Wasser war, doch dabei seinen Tod verpasste. Wie auch seine Frau vergaß, ihn zu verlassen. Er glaubt die Fische zu verstehen und betrachtet Fische im Aquarium, von denen Charlotte weiß, als „Zitate, die man aus dem Zusammenhang gerissen hat“. Er tröstet sich mit eigenen Gedichten in fünf-füßigen Jamben und hat auch ein Buch im Gepäck.
Es folgt eine Familiengeschichte. Devid Striesow ist das Baby im Frottee-Kapuzensack. Es kann sprechen, schlafwandeln und zum Welterbarmen schreien. Oder staunen: das unglaubliche Striesow-Staunen.
Dann tritt André Jung auf als melancholischer Orang-Utan und Ursine Lardi als (Romanfigur?) Maxima, eine beschädigte Spitzensportlerin, die bei jeder Berührung aufschreit. Sie bringt eine traurige Schildkröte mit, die Sebastian Blomberg mit einer Riesenkiste auf dem Rücken erbarmungsvoll gibt. Striesow kommt noch als Falscher Clownfisch und Perlhuhn-Kugelfisch. Allesamt Tier-Pantominen, wie man sie wohl niemals sah! Sie alle - Mensch und Tier - leiden am Leben, an der Welt und versuchen doch, sich gegenseitig zu trösten. „Wenn wir glücklich sind, sind wir alle verrückt“, heißt es mehrfach. „Ich und die anderen, die auch Ich sind“.
Ein ohrenbetäubender Knall. Licht aus. Pause.
Danach wird alles ruhiger. Zunächst treffen wir den erwachsenen Felix in einer Begegnung mit einem gealterten homosexuellen Partner (verständnisvoll: André Jung), dem er gesteht, seit dem Tod der Eltern vor 38 Jahren körperlich gefühllos zu sein. Alles gespielt. Ein einsamer Lügner und Betrüger.
Er spürt nichts, ist „fast selber ein Geist“, als Kind aber hat er „Gott gespürt wie das Wetter“. Es folgt ein minutenlanger Wetter-Monolog, voller phantastischer Stimmungsbilder: da ziehen „Wolken, wie Gottes Gehirn“ auf, Wetterlagen werden hochdramatisch vors innere Auge gezaubert und verwandeln sich in das Aufundab menschlicher Gefühlslagen. Dafür gibt’s Szenenapplaus.
In der nächsten Szene erscheint Charlotte oben auf der näher gerollten Walze als Oktopus „mit acht Armen, neun Gehirnen und drei Herzen“. Der todessüchtige Taucher ist wieder da. Beide wiederholen früher Gesagtes, knüpfen an Szenen im alten Leben an. Charlotte klagt, wie schon als Waisenkind, dass sie nachts bewusst nicht schlafe, damit sie am „Tag erschöpft“ sei, da sie „sonst nicht zu ertragen“ sei und der Taucher glaubt, dass er Menschen beschädige, wenn er mit ihnen spricht. Zudem beklagt Charlotte die Vielfalt ihrer möglichen Meinungen, die Gleichzeitigkeit von Sinn und Unsinn, von Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit, die Unklarheit von Sprechen und Denken im neunfachen Durcheinander des Oktopus-Seins.
Dann ein Zeitsprung: die Walze rollt auf uns zu. Stoppt. Die englische Nationalhymne ertönt, statt des Textes wird lalala gesungen und viele im Publikum stimmen ein. Charlotte ist im Altenheim, achtundachtzig Jahre alt. Sie thront im knallgelben Hausmantel auf einem hohen Hocker am Bühnenrand und philosophiert über das Alter, das sie für ein Massaker hält. „Je älter wir werden, desto mehr Tote lieben wir“, konstatiert sie und ruft wiederholt gegen die eigene Hoffnungslosigkeit an: „Wir werden alle, alle erlöst!“. Dabei flirtet sie mit ihrem Pflegeroboter, den André Jung liebevoll, menschlich gibt. „Ich vergesse fast, dass du ein Roboter bist“, meint sie kokett und er: „Ich auch.“
Da ist er im Spiel fast mehr Mensch als Roboter. Zur Lösung, Erlösung reicht die Maschine im wirklichen Leben nicht. Da bleibt Charlotte - wie alle anderen - dann doch „verrückt nach Trost“.
Ein Stück voller Melancholie und Sehnsucht nach dem „richtigen“ Leben, und doch von diesen bravourösen vier Bühnenzauberern mit so viel Herz und Witz gegeben, dass sich am Ende das Lachen und Weinen die Waage halten.