Übrigens …

Die Bakchen im Mülheim, Theater an der Ruhr

Milch und Blut

Wenn die beschwörenden und betörenden Texte der alten griechischen Dramatiker ihr Versmaß verlieren, wirkt manches, was den großartig raunenden Dramen des Euripides und seiner altgriechischen Vorgänger solch einen unentrinnbaren Sog verleiht, plötzlich banal oder selbstverständlich. Die Textfassung von Euripides‘ Die Bakchen, die Philipp Preuss für seine Inszenierung im Mülheimer Raffelbergpark nutzt, droht in manchen Momenten den Zauber der alten rhythmischen Übersetzungen zu verlieren. Doch Preuss kennt ein anderes Rezept, um eine sogartige Wirkung herzustellen: Man nehme die Musik von Konstantin Heidebrecht, Timafei Birukov und Rolf Sprenger, und alles wird gut. Die Band spielt so etwas wie die Hauptrolle in der Aufführung. Vor allem das Schlagzeug gibt den Rhythmus der Inszenierung vor. Im besten Fall vermag der Sound zum Werkzeug des Gottes Dionysos zu werden und den Park in einen tranceartigen Zustand versetzen.

Die Bakchen bilden den logischen Auftakt zu einer dreiwöchigen Mülheimer „Rausch“-Orgie. Welches Stück beschreibt und verkörpert die Lüste und Gefahren von rauschartiger Entgrenzung mehr als die mehr als 2500 Jahre alte Tragödie des Euripides? - „Spielinseln“ will das Theater an der Ruhr in dieser Saison schaffen, kleine Festivals mit zeitlich begrenzt verfügbaren Aufführungen und Kunstaktionen, die jeweils einem anderen Motto folgen. Drei Wochen lang, vom 18. August bis zum 9. September 2023, widmet sich das Theater meist outdoor, jedenfalls außerhalb der üblichen Räumlichkeiten, dem „Rausch“ in seinen verschiedenen Ausprägungen. Vier Premieren sowie Konzerte, Lesungen, Performances und Kunstinstallationen, inszenierte Lagerfeuer und kulinarische Köstlichkeiten verwandeln den Park des Theaters an der Ruhr in ein dionysisches Festival-Gelände.

Dionysos, verärgert darüber, dass man ihn in seiner Heimatstadt Theben nicht als (neuen) Gott anerkennen will, steigt hinab auf die Erde und sorgt in einem maliziösen Akt der Rache für Chaos und Verwirrung. Der Gott des Weines und der Lüste, des Wahnsinns und der Ekstase versetzt die Frauen des Ortes in einen Rausch. Im Kithairon, dem nahen Gebirge, frönen sie den Lüsten: dem Tanz, dem Wein und wohl auch der sexuellen Ausschweifung. Kein Wunder, dass das die Männer der Stadt in Erregung versetzt. König Pentheus scheint besonders hin- und hergerissen: Ist er doch als Oberhaupt der Stadt für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verantwortlich, mit der Phantasie seiner in voller Blüte stehenden Manneskraft aber auch ganz schön spitz auf die feiernden, vielleicht gar sich erotischen Vergnügungen hingebenden Frauen. Albert Bork - übrigens der einzige Schauspieler, der zumindest zu Beginn in einer Art Straßenanzug auftritt - gibt den Pentheus in Mülheim gleichzeitig als spießige, reaktionäre und autoritäre Spaßbremse und als triebgesteuerten Lustmolch. Er will das Treiben im Kithairon beenden, aber zuvor noch ein bisschen spannen. Das wird nicht gut für ihn ausgehen…

Die Aufführung ist der schlagende Beweis dafür, dass Open Air Theater nicht wie anderenorts üblich als intellektuell flachbrüstiges Unterhaltungsprogramm daherkommen muss. Preuss bastelt aus Schauspiel, Musik, Ausstattung und Freiluft-Ambiente ein überzeugendes Gesamtkunstwerk. Der Videokünstler Konny Keller setzt in einem für das Theater höchst innovativen Verfahren Wärmebildkameras ein. Neben Heidebrechts Musik sind vor allem die Kostüme von Eva Karobath eine Show: Dionysos (Felix Axel Preißler) trägt ein schlangenartiges Gewinde um den Kopf und den Schwanz eines Pferdes am Hintern; mit Ausnahme von Borks Pentheus sind die Figuren in braune, manchmal auch golden schimmernde Einteiler gekleidet, die sie wirken lässt wie Wilde an der Grenze zwischen Mensch und Tier; häufig tragen sie phantasievolle Masken - und den Vogel schießt ein Kleid ab, das ganz aus Weinflaschen-Korken zusammengenäht ist: Für dieses Kunstwerk muss Dionysos seinen halben Weinkeller leergetrunken haben. Da es ja auch um sexuelle Ausschweifungen, um körperliche Lust und Neugier geht, tragen die Schauspielerinnen und Schauspieler szenenweise Nudesuits, die so realistisch sind, dass Instagram dem ein Produktionsfoto nutzenden Schreiber dieser Zeilen erstmals nach fast 1200 Beiträgen seinen Kurzbericht sperrte.

In einem faszinierenden Orgien-Bild werden die übereinander und untereinander sich verknäuelnden Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren Nudesuits mit Milch und Blut übergossen. Milch und Blut - damit sind die beiden Pole des Rausches schon angedeutet: Lust und fröhliche Ekstase einerseits und andererseits die Gewalt, in die der Rausch umschlagen kann, die Besessenheit, der Blutrausch. Pentheus will sich am fremden Sex berauschen - und er wird dem Blutrausch zum Opfer fallen. Die Polarität gilt in allen Zeiten - vor 2500 Jahren ebenso wie heute: Rausch kann Befreiung sein oder zu Mord und Totschlag führen. In einem Interview mit der Produktionsdramaturgin Constanze Fröhlich spricht Regisseur Philipp Preuss den Fall Charles Manson an, der uns Älteren immer noch Schauer über den Rücken jagt. Viele seiner brutalen Morde und derer seiner „Family“ geschahen wohl unter dem Einfluss der persönlichkeitsverändernden Droge LSD. Ein zwanzigminütiger, reflexiv gemeinter Einschub thematisiert die Machtverhältnisse und den Machtmissbrauch ebenso wie die Rauschzustände und den LSD-Konsum in der Filmindustrie: Leonhard Hugger tritt vorübergehend aus seiner „Bakchen“-Rolle und spricht Texte des Filmregisseurs Werner Herzog; ausgiebig werden der französische Philosoph Michel Foucault und wohl auch Albert Hofmann, der Erfinder des LSD, zitiert. Bewusst wird hier der Flow der Aufführung unterbrochen: Akustisch und intellektuell schwer verständlich werden unvollständige Sätze vom Band und Huggers Texte gegeneinandergeschnitten. Letztlich wirkt diese allzu lange währende Szene allerdings leider wie ein Fremdkörper in der ansonsten wie aus einem Guss inszenierten Aufführung.

Die Bakchen aber verhandeln nicht nur einen Rausch, sondern auch einen Machtkampf zwischen zwei Alphatieren, die in Mülheim beide nicht sonderlich sympathisch wirken. Dass der von Bork mit dezidiert diktatorischen Zügen ausgestattete Pentheus den neuen Gott nicht anerkennen will, ist eine Herausforderung. Dass Dionysos in die Stadt kommt und alle Frauen in die Schluchten des Kithairon lockt, ist für den Herrscher und das Patriarchat in der Stadt eine mindestens ebenso große Provokation: Pentheus‘ Macht wird in den Grundfesten erschüttert. Der König wird geradezu zu weiterem Ungehorsam herausgefordert. Doch die Götter sitzen meist am längeren Hebel. Der Schlusssatz, beschwörend und betörend in perfektem Versmaß, führt uns vor Augen, wovor der blinde Seher Teiresias und Pentheus‘ Großvater Kadmos bereits gewarnt hatten: „Das Göttliche hat viele Gesichter. Die Götter geben uns, was wir nicht erwarten, und was wir erwarten, geben sie uns nicht. Der Weg des Gottes ist unberechenbar.“

So ist es. Und so war es auch hier.