Der Traum vom Neuanfang
Gleich die erste Szene setzt den Ton, der - fast - die gesamte Aufführung bestimmt. Der meist hinter der Bühne platzierte Musiker Josh Sneesby produziert zarte, harmonische Klänge, ein paar Gestalten tuscheln hinter dem Fenster des kleinen Wohncontainers, des einzigen Innenraums der Bühnen-Installation, und im kurz aufleuchtenden Spotlight sieht man Hermia, im Schlaf zusammengekauert. Barbara Frey inszeniert zum Auftakt der diesjährigen Ruhrtriennale den Sommernachtstraum - als einen einzigen langen Traum. Irgendjemand liegt fast immer schlafend auf der Planche. Wenn in Shakespeares Geschichte geträumt wird, ist es halt "a dream within a dream".
„Is all that we see or seem / But a dream within a dream?“ fragt Edgar Allan Poe in seinem Gedicht. Die Zeilen würden auch zu Shakespeares Stück passen - nicht unbedingt im Hinblick auf die Vergeblichkeit allen Lebens und Strebens wie bei Poe, aber im Hinblick auf die Irrungen und (Ver-)Wirrungen der Protagonistinnen und Protagonisten. Meist geht Shakespeares Text ja als Komödie durch, und fast immer wird er mit einer Reihe von lustigen Einfällen, gespielt von manch lustigen Personen, auf die Bühne gebracht. Freys Inszenierung dagegen nähert sich eher Poes Lyrik an. Ihr Humor ist nicht zum Schenkelklopfen, sondern eher bittersüß. Der Sommernachtstraum sei so etwas wie das Stück der Stunde, hatte Frey im Vorfeld gesagt. Und so steckt ihre unbedingt werktreue Inszenierung voller kleiner mal mehr, mal weniger versteckter Botschaften ans Heute.
Die Irrungen und Wirrungen von Shakespeares Stück führen, bei Lichte betrachtet, bekanntlich nicht nur zu lustigen (Liebes-)Eseleien, sondern zu Krisen und Verunsicherungen bei den Betroffenen. Tyrannengehabe vom Feinsten müsste den vergnügungssüchtigen Sommernachtstraum-Liebhaber eigentlich in Angst und Schrecken versetzen: Das Gesetz besagt, dass eine ungehorsame Tochter, die den ihr vom Vater zugedachten Mann nicht heiraten will, sondern anderweitig auf Freierinnenfüßen geht, mit dem Tode bestraft werden kann. Und Egeus fordert beim König genau diese Strafe für seine trotzige Tochter ein, falls Hermia weiterhin ihrem Schwarm Lysander nachstellt statt den sie innig liebenden und vom Vater ausgewählten Demetrius zu ehelichen. Dabei ist die mit üppigen Formen ausgestattete (tatsächlich wohl von der Ausstattung künstlich so ausgestattete) Hermia der Meike Droste eigentlich gar nicht trotzig, sondern allenfalls ein bisschen naiv - wie eigentlich all die jungen Leute, die sich da über Kreuz lieben. Lili Winderlichs Helena, die wiederum Demetrius anhimmelt, versteigt sich gar zu der Aussage, sie sei Demetrius‘ „Hündchen“. Da geht dem Freund emanzipierter Frauen doch der Hut hoch!
Die Verunsicherungen führen zu einem Gefühl der Aussichtslosigkeit, vielleicht gar der Depression. Glückshormone sind aus in Freys Shakespeare-Apotheke: Das Gefühl der Liebe schüttet bei Hermia und Helena, bei Demetrius und Lysander kein Serotonin mehr aus. Hermias und Helenas Liebe wohnt eher eine stille Sehnsucht inne, begleitet von einer unterschwelligen Traurigkeit. Die Flucht in den Wald – ist das Aufbegehren? „Hündchen“ sind liebe Lebensgefährten, aber festgezurrte Rollenmuster heben sie nicht aus den Angeln. - Oder etwa doch? Freys Aufführung ist voller Poesie. Glauben wir an die Macht der Poesie? Wer den Sommernachtstraum liebt, sollte das tun. Helena jedenfalls zeigt zumindest Ansätze von Selbstbewusstsein und traut sich ab und zu, die Jungs auszuschimpfen.
Autokraten an der Macht, das Patriarchat in voller Blüte, eine selbst in der Liebe eher depressive Gesellschaft – da hat Frau Frey also einige aktuelle Themen und Zukunftsängste im Stück gefunden, die auch heute noch Diskussionspotential bieten. Sogar die Umwelt-Thematik hat die Regisseurin und Triennale-Intendantin in ihre Inszenierung eingebaut: Im großartigen Bühnenbild von Martin Zehetgruber sprießen hoffnungsvolle junge Triebe aus kargen Bäumen, die zwischen rostigen alten Autowracks wachsen. Der Wald hat ausgedient und ist zur Deponie für Wohlstands-Müll geworden. Doch wo man träumen darf, da gibt es Hoffnung: Irgendwann werden die jungen Bäume vielleicht wieder zum Wald zusammenwachsen und das rostende Blech unter sich begraben. Mit Beharrlichkeit, nicht mit Aggression. So mögen auch die jungen Leute zum Ziel kommen.
Im warmen Licht von Rainer Küng haben auch die Wracks im Wald etwas morbid Poetisches. Von der Düsternis des Waldes und seinen Bedrohungen kann man im Begleittext lesen. Aber die Aufführung ist nicht düster. Warm und harmonisch wirken Sound, Licht und Artikulation der Schauspieler, zärtlich und respektvoll geht Frey mit Shakespeares Text um. Den Bedrohungen hat Barbara Frey jeweils etwas Hoffnungsvolles entgegengesetzt: die sprießenden jungen Triebe, die androgynen Figuren am Hofe, die Crossgender-Besetzungen. So neu ist der Einfall nicht, König Theseus und Hippolyta einerseits und das Elfenpaar Oberon und Titania anderseits mit dem gleichen Schauspieler-Paar zu besetzen. Neu ist aber, dass Theseus und Titania sowie Hippolyta und Oberon jeweils gleich besetzt werden. Markus Scheumann, der starrsinnige König Theseus mit seinen altmodischen Prinzipien, gibt gleichzeitig eine wunderbare, hochgewachsene, schlanke, ellenlange Titania mit einer rekordverdächtigen Hochfrisur wie von Victoria Behr ersonnen (tatsächlich ist es Esther Geremus, die für die Kostüme verantwortlich ist). Als Titania wirkt Scheumann androgyn, nach der Verzauberung deutet er mit kleinen, rührend zarten Gesten Titanias Verliebtheit in den Esel an. Ein bisschen zickig ist die Elfen-Queen im Streit mit ihrem Oberon, dem Sylvie Rohrer in leicht schweizerischem Tonfall eine ganz individuelle Form von Durchsetzungswillen verleiht. Marie-Luise Stockinger ist ein hübscher, empathischer Knabe Lysander und ein witzig-ängstlicher Löwen-Darsteller Schnock in Squenz‘ und Zettels Handwerker-Truppe, und wenn Stockinger und Droste als Lysander und Hermia Hand in Hand ein wenig schüchtern den gar nicht so dunklen Wald betreten, liegt der Gedanke an Hänsel und Gretel nicht fern. Für die allerdings hatte der Wald in der Tat lebensgefährliche Überraschungen parat…
Die groteske Aufführung der dilettantischen Handwerker-Truppe übrigens inszeniert Barbara Frey dankenswerterweise ebenfalls nicht mit krachendem Witz, sondern mit liebevollem, zärtlichem Humor. Oliver Nägele als Zettel sticht mit einem unbeholfenen, aber menschenfreundlichen, sehr eigenwilligen Humor hervor. Ihre zum Splatter-Drama verkommene Geschichte von Priamos und Thisbe dürfen die Handwerker ganz zum Schluss zeigen. Dramaturgisch mochte man auf die Szenen, auf die sich mancher Sommernachtstraum-Besucher besonders freut, wohl nicht verzichten. Aber trotz allen Bemühens bekommt die Handwerker-Aufführung einen anderen Rhythmus als die ruhige, poetische Inszenierung zuvor, die wie aus einem Guss dahergekommen war. Sie wirkt ein wenig wie ein Fremdkörper an dem ansonsten rundum gelungenen Abend. Bis dass ein letztes Bild noch einmal Anlass zum Nachdenken gibt. Alle tanzen den Bergamasca-Tanz, den „Tanz von Rüpeln“, der ein hübsches, versöhnliches, lustiges Ende des Stücks bieten soll. Sie tanzen in Zeitlupe, wie Schatten aus der Totenwelt. Wie war das mit der Hoffnung auf den Neuanfang, den junge Bäume und Crossgender-Besetzungen zu versinnbildlichen schienen?