Mordet die Revolution die Demokratie?
Es ist ein schönes Bild, mit dem Robert Borgmanns „theatrale Installation“ nach Georg Büchners nachrevolutionärem Drama Dantons Tod beginnt. „Die Freiheit führt das Volk“, lautet seine Überschrift. Das weist auf Eugène Delacroix‘ gleichnamiges ikonisches Gemälde von 1830 hin, das heute im Louvre hängt. Bei Delacroix steigt eine barbusige Marianne über soldatische Leichen und schwingt die Fahne der Freiheit; bewaffnete und unbewaffnete Bürger folgen ihr zum Aufstand gegen die restaurativen Kräfte von König Karl X., die die politischen Verhältnisse von vor der Französischen Revolution von 1789 wiederherstellen wollen. Niedergetrampelte Barrikaden werden angedeutet. „Nur wenige Bilder haben die Kraft, die Mächtigen schwach erscheinen zu lassen“, heißt es bei Borgmann: „Delacroix‘ Meisterwerk ist eines davon.“
Borgmann hat das Bild von Delacroix ins Heute geholt und auf die Unterbühne im Schauspielhaus Bochum versetzt. Dazu hat der Regisseur höchstselbst eine an geistliche Musik erinnernde, suggestive Komposition geschrieben. Magie entwickelt das Bild vor allem, weil es nur durch einen großen, schräg aufgestellten Spiegel zu sehen ist, der das Geschehen von der Unterbühne ins Parkett überträgt. Auch bei Borgmann gibt es Barrikaden: eiserne Absperrgitter und Kunststoff-Pylonen, wie wir sie von heutigen Polizeieinsätzen kennen. Wie in Zeitlupe sieht man Menschen mit schwarzen Regenschirmen, die die Barrikaden überwinden, und Polizisten, die ihnen folgen oder sich ihnen entgegenstellen. Der Gedanke an die „Regenschirmrevolution“, die Protestbewegung im Hongkong des Jahres 2014, die sich gegen die antidemokratischen Maßnahmen der chinesischen Staatsregierung richtete, liegt nahe. Aber das Bild behauptet darüber hinaus Allgemeingültigkeit. Die Auftaktsequenz bildet eine Klammer von der Hinrichtung der müde und nachsichtig gewordenen Danton und Desmoulins im Jahre 1794 über die Julirevolution des Jahres 1830 bis zu den demokratischen und antidemokratischen Aufständen der heutigen Zeit. Die Revolutionäre werden zum Tode verurteilt: Teile des 4. Akts von Dantons Tod werden gesprochen; Dantons Furcht oder Resignation im Angesicht des Todes sowie Lucile Desmoulins‘ provokanter Ausruf „Im Namen der Republik: Es lebe der König!“ beschließen die Szene.
Der kurze erste Teil der wie ein Triptychon aufgebauten Aufführung beschreibt die Zielsetzung der gut zweistündigen Aufführung. Danton, zuvor in der Realität (und anders als bei Büchner) nicht minder gnadenlos als sein Gegenspieler Robespierre, war 1794 desillusioniert, aber auch zu dem Ergebnis gekommen, dass nunmehr anstelle der Gewalt die Vernunft herrschen müsse. Robespierre verfolgte die Ziele der Revolution weiterhin mit unbarmherziger Konsequenz und gnadenlosem Blutvergießen. Die Demokratisierung, die Übernahme der Macht durch das Volk endete erstmal im Desaster. Und wie ist das heute? Radikale Veränderungen in unserem Lebensstil, vielleicht auch in unserem Politikstil erscheinen notwendig. Rebellische Organisationen wie „Fridays for Future“ entstehen, radikalere, den Rechtsraum unserer Demokratie missachtende oder verletzende Bewegungen wie die der „Letzten Generation“ rufen zur Revolution auf. Aber auch durch restaurative, rückständige, rechtsradikale Parteien ist unsere Demokratie in Gefahr. Die entgegengesetzten Pole fordern einander heraus und fördern die Radikalisierung der Gesellschaft, stärken sich dadurch möglicherweise sogar gegenseitig, obwohl sie einander eigentlich bekämpfen. Borgmann stellt beunruhigende Fragen: Ist Widerstand, ist Aktivismus überhaupt erfolgversprechend innerhalb demokratischer Strukturen? Und umgekehrt: Zerstören Revolten und politischer Aktivismus die Grundlage unserer Demokratie?
Relevanter könnte eine Aufführung also kaum sein. Und doch scheitert Borgmann mit seiner Untersuchung, und zwar tragischerweise weil er zu viel will. Der längliche zweite Teil des Triptychons nimmt seine Anleihen nicht mehr bei Delacroix, sondern beim Meister Büchner selbst. Da sind ein Film, ein Wald und Risto Kübar im rosafarbenen Anzug: Büchner geht durchs Gebirg. Texte aus Büchners „Lenz“-Novelle werden auf das Filmbild projiziert; der Autor des Danton scheint in der Person von Lenz zu reflektieren, vor der Realität zu fliehen, gar in die „Kluft unrettbaren Wahnsinns“ abzugleiten. Später wird auch aus Büchner-Briefen an seine Familie oder seine Verlobte zitiert. Seien wir ehrlich: Es wird schwer, den Gedanken des Regisseurs zu folgen, und so freut man sich, als, aus der Unterbühne hochgefahren, nach 29 Minuten erstmals echte Schauspieler auf den Brettern stehen. Die Barrikaden werden abgeräumt, ein malerischer Karren aus der Zeit der Französischen Revolution oder aus der Entstehungszeit von Büchners Drama (1835) wird abgestellt, und ein zur Unkenntlichkeit entstellter Fiat mit zwei jungen Menschen auf der Motorhaube rollt herein. Da ist sie wieder: die Klammer von 1794 bis 2023. Endlos wird der Fiat ab jetzt rotieren und demonstrativ die Zeitgenossenschaft der Inszenierung behaupten. Demonstrieren tun auch Vermummte; eine Klimakleber-Aktion wird nachgestellt; Büchner-Sätze erklingen, deren Relevanz für unsere Zeit nicht abzustreiten ist: „Die Strafe der neuen Ordnung ist die Tugend. Die Waffe der neuen Ordnung ist Gewalt.“ Das politisch Fatale, das, was nachdenklich stimmt, ist: Man weiß nicht, wer heute für die „neue Ordnung“ steht. Die rechtsradikalen Demokratiefeinde? Oder die vorgeblich Tugendhaften, die Endfünfzigern die Karriere vermasseln wegen einer Jugendsünde, die diese im Alter von 17 begangen haben, die Cancel Culture Aktivisten, die mit unbewiesenen Behauptungen Künstler von der Bühne oder von der Leinwand vertreiben, denen nach seriösen Recherchen gerichtlich keine Schuld nachgewiesen werden kann? Tugendterror-Robespierres nehmen sich auch heute die Macht und haben Freude an dem virtuellen Blutbad, das sie unter ihren Gegnern anrichten. „Genügt es, für die Freiheit zu sterben, oder soll man für sie töten?“, heißt es, und: „Mordet Barmherzigkeit die Revolution?“. Manche töten heute, ohne für sich selbst das geringste Risiko einzugehen.
Die Aufführung ist nun hochassoziativ. Das kann man, das muss man sogar schätzen, zumal ihr Anliegen ein spannendes, hochaktuelles Denkspiel ist. Borgmann stellt Fragen; Antworten darf sich jeder und jede selbst geben, auch wenn beim Schlussapplaus alle Schauspieler noch einmal gestisch ihre Sympathie für die Klimakleber demonstrieren und damit die vorherige zweistündige Darstellung eines Dilemmas konterkarieren. Überlegungen wie die im vorherigen Absatz dieses Textes sind subjektive Gedankengänge des Rezensenten, nicht von Borgmann vorgegeben. Aber die Aufführung überfordert; sie ist überladen mit Ideen und nimmt das Publikum weniger und weniger an die Hand, um den Überlegungen des Leitungs-Teams folgen zu können. Das aber – und das ist wiederum eine Stärke der Inszenierung – scheint selbst ratlos zu sein. Die Demokratie zu schützen und gleichzeitig die sich mit den gegenwärtigen Krisen verschärfenden Konflikte gewaltfrei zu lösen und die alternativlosen Veränderungen unseres Lebensstils durchzusetzen – das ist eine hohe Kunst, für die das Regiebuch noch nicht geschrieben ist.