Man muss ein Mensch sein
Auf der brav-beigen Guckkastenbühne der Kammerspiele nur spärliche Möblierung: ein mattgrünes Schlafsofa, ein spirriger Tisch, ein Stuhl. Aus dem Off ertönt Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, „Alla Turca“ aus der Klaviersonate Nr. 11 A-Dur (KV 331). Genauso steht‘s im Stücktext. Exakt vorgegeben. Wie auch alle anderen Musikeinblendungen, sei es Pop, Klassik oder Kirchenchoral, die das Stück fast durchgängig untermalen. Alles ist in dieser Inszenierung - von der Autorin Saara Turunen selbst in Szene gesetzt - ist äußerst exakt, präzise: jede Bewegung, jedes Wort, jedes Bild. Allerdings gibt‘s Text ganz ungewöhnlich wenig in diesem neunzig Minuten Schauspiel. Manche der dreißig locker aneinandergereihten Szenen bleiben wortlos, pantomimisch, karikaturistisch. Andere bringen nur einen knappen Erzähltext. Alles wirkt leicht verfremdet, surreal, oft absurd. Fünfzehn Figuren treten auf, gespielt von fünf Personen, die uns in der ersten Szene gleich alle in trister Alltagskleidung begegnen.
Die Bühne hat rechts und links je eine Tapetentür für die Auf- und Abgänge, im Hintergrund eine doppelte Falttür, durch die die Bühne erweitert werden kann. Einzeln betreten drei Frauen und zwei Männer die Bühne, vier von ihnen tragen einen Stuhl. Sie stellen die Stühle zusammen, umkreisen sie zur Musik, dann: Stopp! Wir kennen das Spiel: Die Reise nach Jerusalem. Eine Frau bleibt übrig. Sie bekommt eine faustgroße Eieruhr, die laut tickt und auch mal klingelt. Sie ist die Kinderlose Frau (sachlich, nüchtern gegeben von Anne Drexler). In einer späteren stummen Szene tauchen zum Valse nostaltique von Paul Lewis vor der eifrig in ihren Laptop vertieften Kinderlosen in blass-grünlichem Outfit alle anderen (auch die Männer in blass-rosé Frauenkleidung) mit Baby-Bündeln auf, tanzen, schunkeln, strahlen vor Glück. Tänzelnder Abgang. Die Kinderlose bleibt zurück, kann nicht weiterarbeiten, die Eieruhr tickt. Ein eindrucksvolles Bild für den gesellschaftlichen Blick auf die Rolle der Frau. Und um die geht es in dem Stück der finnischen Autorin: um die Frau, um den weiblichen Körper, um Fruchtbarkeit und Kinderlosigkeit, um Lust und Kontrolle, um Trennung von Körper und Vernunft.
Drei Grundfiguren, die sich mit ihrer Körperlichkeit beschäftigen, treten auf: zunächst die Kinderlose, die Karrierefrau, die irgendwann in die Rolle der alttestamentlichen Hanna schlüpft, die gekränkt und gedemütigt Gott um einen Sohn bat und vom Priester ermahnt wurde, ruhiger zu beten. Auch unsere Kinderlose, die sich zum Lied Liebster Jesus wir sind hier auf dem bunt angestrahlten (Kirchen)- Boden wälzt, wird zurechtgewiesen, sich nicht so „tierisch“ zu verhalten. Ob ihr Gebet, wie das der Hanna, die Samuel gebar, erhört wird, erfahren wir nicht.
Dann ist da ein Mädchen, das Nutella und Schokoladenkuchen in sich hineinstopft, lang und dürr, in rotem Kleid mit Schleife im Haar, bizarr und albern gegeben von Lukas von der Lühe.
Schließlich gibt die Schauspielerin Jing Xiang der dritten Frauenfigur in mehreren Szenen höchst unterschiedliche Gesichter als Genusssuchende Frau. Mal schaut sie als Ehefrau verängstigt und verschämt heimlich die Pornos ihres Mannes, mal masturbiert sie, dass das Sofa gerüttelt und geschüttelt wird, mal unterbricht sie den ehelichen Beischlaf und reflektiert ernüchtert ihr eigenes Sexualverhalten. Am Ende reißt sie der wortlos auftretenden Aufseherin die Maske vom Gesicht: ein Befreiungsschlag. Während all der Szenen kommt aus dem Off wieder und wieder der Satz: Man darf kein Tier sein, man muss ein Mensch sein.
Neben den Hauptfiguren gibt es - ein wenig zurückgenommen, thematisch aber nicht unwichtig – noch einige Nebenfiguren, darunter die strickende Mutter (brav-bürgerlich gegeben von Veronika Nickl) oder in zwei rasanten Auftritten rot angestrahlt, von Lukas von der Lühe umwerfend präsentiert: die vollbusige Sexbombe. Nicht zuletzt die wortlos immer wieder auftauchende Aufseherin, personifizierte Kontrolle und Selbstkontrolle in maskenhafter Anonymität.
Das wortarme Stück bringt krasse, teilweise urkomische Bilder vom Frau-Sein, vom psychisch- physisch-gesellschaftlichen Erscheinungsbild aus vorwiegend weiblicher Perspektive. Kontrollierende Machtinstanzen tauchen auf - die Mütter, die Kirche, der Chor der Gesellschaft - werden hinterfragt und bleiben doch meist unbeantwortet. Dabei lässt die Autorin viel Raum für eigene Gedanken und Assoziationen.
So nicht zuletzt der Titel, der wohl als Referenz auf John Steinbecks Romantitel „Früchte des Zorns“ zu lesen ist. Der Roman des späteren Nobelpreisträgers entstand 1939 aus einer Serie journalistischer Artikel, die sich sozialkritisch mit der Ausbeutung der Wanderarbeiter befassten. Saara Turunens Früchte der Vernunft kann man sowohl formal als auch thematisch analog dazu als Frage nach der Ausbeutung, Kontrolle und Verleugnung des weiblichen Körpers verstehen.
Das ungewöhnlich junge Publikum applaudierte begeistert.