Von Dante bis Darmspiegelung
De Bus kütt. Ob er da hinwollte, wo er jetzt steht, links in der riesigen Kraftzentrale des Landschaftsparks Nord in Duisburg, oder ob er da irgendwie havariert ist, sei dahingestellt. Die Passagiere und ihr Reiseleiter sind’s jedenfalls zufrieden, wie es scheint. Sie sind eigentlich immer zufrieden, denn sie haben ungewöhnlich sonnige Gemüter. Die sympathischen Gestalten können einem allerdings bisweilen durchaus unheimlich werden, hat ihr Verhalten doch auch etwas Sektenmäßiges. Aber erstmal nehmen sie einen Willkommenstrunk. Auch Riechepäckchen mit wohlduftenden Essenzen stehen zur Verfügung, und dann geht es unter großer Rücksichtnahme aufeinander an die Arbeit. Die Reisegesellschaft zieht erst einmal ein monumentales Landschaftsbild an der Rückseite der Halle auf. Ob das eine romantische Küste oder eine grenzenlose Wüste zeigt, lässt sich bereits aus Reihe 3 nicht so recht definieren. Das kann uns aber auch gleichgültig sein: Es „könnte der Matrose friedlich im Krater der Wüste schlummern“, dichtet einer. Philippe Quesne, der Theatermagier und Bilderfinder aus Paris, will uns, wenn wir dem Titel seiner zum 20. Dienstjubiläum seiner Company vivarium studio entstandenen Arbeit glauben wollen, an Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ erinnern. Also an Paradies, Hölle und mehr oder weniger unschuldige sexuelle Freuden in allegorischer, phantasievoller Umgebung? Man wird sehen. Hölle oder Paradies - die Landschaft auf der Leinwand könnte beides sein. Sex verspricht sie erstmal nicht; auch bei Bosch interpretiert man die nackten Gestalten ja eher als Menschen im Zustand der Unschuld.
Sex brauchen die auch nicht, die sämtlich etwas esoterisch angehauchten Gestalten, die da aus dem Bus gestiegen sind und von denen gleich mehrere in ihrer merkwürdigen Verkleidung an Western-Darsteller erinnern. Die wirken alle klinisch rein, haben ganz eindeutig das eine oder andere Achtsamkeits-Seminar zu viel genossen und waren vermutlich alle auf der Waldorfschule. Was sie allerdings mitgeschleppt haben und nunmehr malerisch in der Landschaft platzieren, ist ein gigantisch großes Ei - ein Ei, Ursprung der Welt, das unten ein so klaffendes Loch hat wie das merkwürdige Ungeheuer im Zentrum des Höllen-Teils von Hieronymus Boschs Triptychon. Oder wie das frisch geköpfte und ausgelöffelte Frühstücks-Ei am Morgen im Garten des Rezensenten, aber das hat das Loch oben.
„Alle Löcher in Lebewesen, Steinen, Pflanzen, Tieren, alle Löcher begannen zu sprechen“, heißt es bald darauf in einem der inbrünstig vorgetragenen Texte. Das hat aber wahrscheinlich nichts mit dem Ei zu tun, das eher für diverse Rituale herhalten muss. Eigentlich wird wenig gesprochen in der zweistündigen Inszenierung, aber Textreferenzen gibt es jede Menge: von Shakespeare bis Patti Smith, von Henry Purcell bis Roy Orbison und von Dante bis zur Darmspiegelung. Eine scheinbar einem Renaissance-Gemälde entstiegene Frau horcht mit einem Mikro in das Innere des Eis und berichtet nebenbei so suggestiv von ihrem berauschenden Darmspiegelungs-Erlebnis, dass man das Gluckern und Rauschen des Wassers im Darm in den eigenen Ohren zu vernehmen glaubt. Man sei im Mittelteil des Triptychons, heißt es erklärend dazu, und wir erinnern uns: da gibt es diese zahllosen glücklichen, tanzenden oder auf irgendwelchen Tieren im Kreis reitenden Nackten, die Gott auf saftigen Wiesen weidet und zu frischen Quellen führt, wie es schon die Psalmen beschreiben. Heilsversprechungen - darum geht es den Menschen in Quesnes Bilderreigen, um grüne Weiden, Dantes Hölle und eine gereinigte Darmflora, um Achtsamkeitsseminare und Flötenmusik, Wunderglaube und Zaubertricks. Virtuelle Flammen züngeln in Elektrokaminen, Grillen zirpen über Lautsprecher, und wenn die Zikaden bei der Konzentration stören, werden sie einfach ausgeknipst.
Ab und zu aber schwillt das Zirpen an zu einem bedrohlichen akustischen Sturm, ab und zu scheint der Weltuntergang nahe zu sein oder zumindest Gottes Zorn. Dann zieht ein Gewitter auf in der Duisburger Kraftzentrale; dann schleudert Thor seinen Hammer oder Gott lässt den Donner auf uns niedergehen. Da helfen keine Flötentöne mehr und keine Tamburine; die acht- und furchtsame Gesellschaft spürt, dass es keine Sicherheit gibt in dieser Welt. Wieder einmal wird Shakespeares Sonett Nr. 35 zitiert: „Die schönsten Knospen darf ein ek’ler Wurm entstellen“. - Mag vieles davon auch auf noch so absurde Weise dargestellt werden, so handelt es sich doch um Bedrohungen der scheinbar so heilen Welt. Schnell werden solch dunkle Wolken wieder fortgeblasen. Quesnes bildstarke Inszenierung ist wie alle seine Werke: entspannt, locker, philanthropisch und absurd. Aber es gibt diese leisen, unauffälligen Störer: die großartig, mit volltönender Stimme vorgetragenen Beschreibungen der Hölle aus Dantes „Göttlicher Komödie“ und eine unschuldig, freundlich und harmlos vorgetragene Frage: „Sind Sie sicher, dass unsere Erde nicht nur die Hölle eines anderen Planeten ist?“
Könnte schon sein, meint der Schreiber dieser Zeilen. Aber wenn es in der Hölle so entspannt und humorvoll zugeht, so rücksichtsvoll und literaturverliebt, dann mag man gern eine Weile dort braten. Quesnes Aufführung kommt vordergründig daher wie eine Etüde über den „höheren Blödsinn“, wie man zu des Schreibers Studentenzeit die Werke einer Gruppe von musikalischen Kabarettisten zusammenfasste, aber man möge sich nicht täuschen. Assoziativ streift sie eine Menge von Themen aus Literatur, Wissenschaft und Philosophie. Sie ist so bunt wie Hieronymus Boschs Triptychon, und auch so rätselhaft.
Nach zwei Stunden ruft der Reiseleiter seine Truppe wieder zusammen: „Das Ei schlägt vor, ein neues Ziel zu wählen.“ Sind alle einverstanden? - Es regt sich weder Widerstand noch gibt es Zustimmung. Der Himmel schickt einen rätselhaften Lichtstrahl, an dessen Spitze ein kleines Dreieck leuchtet. Auf denn: „In den Berg!“ - Ob da Erlösung wartet?