Mehr Lebens- als Todeskampf
Arbeit und Struktur, ein digitales Tagebuch, ein Internet-Blog als Adaption auf die Bühne gebracht, das klingt nüchtern, vielleicht nach szenischer Lesung. Und in der Tat, zunächst hören wir eine Frauenstimme aus dem Off: ein vierstrophiges Gedicht von Georg von der Vring – es könnte von Herrndorf sein. Dann riesig, wandfüllend das Video von Florian Lange als Herrndorf mit einem langen Monolog aus seinem Blog zur Diagnose seiner Krebserkrankung: am 25. Februar 2010 erhält er den Bescheid: Gliobstatom – Gehirntumor, zu hundert Prozent tödlich. Statistische Lebenserwartung laut Wikipedia 17,1 Monate ab Diagnose.
Was ist zu tun? Statt zu wehleidig zu sein, erstellt er eine „Liste von Dingen, die besser geworden sind: Nie wieder Zahnarzt, nie wieder Steuererklärung“ (die er in einer späteren Szene mehr zu fürchten behauptet als den Tod), dafür gibt’s verständnisvolles Gelächter im Saal. Dann wird’s ernst: er wird arbeiten, Arbeit und Struktur macht er zum Motto der verbleibenden Lebenszeit. Das erste Projekt: Der Jugendroman Tschick , an dem er seit März 2004 arbeitet. (Wir wissen es: im September 2010 wird der Roman veröffentlicht und schon bald zum Welterfolg. Es folgt 2011 Sand - mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Insgesamt bleiben ihm fast dreieinhalb Jahre.)
Der Bericht bricht ab. Dass es ein Live-Video war, verriet der Mikroport. Zwei junge Leute toben auf die Vorderbühne und für einen Moment sind wir mitten inTschick. Und damit beginnt ein grandioses Bühnenspiel. Die Videowand verschwindet mal ganz, mal teilweise. Dahinter tauchen Räume auf, mal mehr, mal weniger. Mal sind wir in Herrndorfs Wohnung: Bad, Arbeitsplatz, Schlafplatz, mal beim Arzt, mal in einem der Romane. Bis zu zehn Spielbuchten oder Videoflächen gleichzeitig können bespielt werden, dazu noch die Vorderbühne. Szenen laufen live und gleichzeitig aus einer anderen Perspektive im Video.
Es bleibt bei drei Interpreten, dabei dominiert Florian Lange in der ergreifenden Hauptrolle, während die beiden anderen (Caroline Cousin und Moritz Klaus) hin und her wechseln zwischen Blog- und Romanfiguren. Wobei Klaus auch mal in eine der bereit hängenden grünen Adidas-Jacken (Herrendorfs Lieblingskleidungsstück zu Lebzeiten) schlüpft und den jugendlich-ungestümen Protagonisten gibt. Monologe wechseln mit gelegentlichen Dialogen, Krankenberichte mit Arbeitsberichten, Existentielles mit Banalem, Erschreckendes mit Witzigem. Dabei gibt Herrndorf/Lange die Deutungshoheit über sein Leben nicht aus der Hand. „Mein Leben ist immer noch mein Leben“, konstatiert er wieder und wieder – wenn ihn die Kräfte auch schon mehr und mehr verlassen. Mit Musikeinspielungen und raffinierten Lichteffekten werden die Stimmungen untermalt, während die Zeituhr erbarmungslos an der Rückwand tickt.
Den Schuss am 26.August 2013 am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals erspart uns das Regieteam um Adrian Figueroa. Stattdessen grelle Lichteffekte und noch einmal der Text von Georg von der Vring, dessen Leben und Sterben dem Herrndorfs glich: wie er war er Maler und Dichter und starb vermutlich durch Suizid. Herrndorf schätzte ihn und erwähnt das Gedicht „In der Heimat“ mehrfach in seinem Blog. .
Herrndorf hatte den Internet- Blog nach der Diagnose des bösartigen Hirntumors als digitales Tagebuch zunächst nur für seinen Freundeskreis begonnen, öffnete ihn aber später, machte ein literarisches Projekt daraus, mit dem er täglich Zehntausende erreichte. Er gab sein Einverständnis für die Buchfassung, die 2013 nach seinem Tod erschien. Robert Koall, Chefdramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus und Freund von Herrndorf zu dessen Lebzeiten, konnte jetzt für die Düsseldorfer Stückfassung auf Blog und Buch zurückgreifen. Er selbst nennt seinen Text, der intelligent und ergreifend die Stimme des Autors mit den Texten einiger seiner Romanfiguren verbindet, den „teilnehmenden Spaziergang durch den Kopf eines Künstlers“. Ein phantastischer Spaziergang, an dem wir so betroffen wie begeistert teilnehmen.