Alte Legende mit aktuellen Themen
Ja, das gibt es noch: Theater, das einfach nur eine Geschichte erzählt, ohne Mätzchen, überraschend konventionell. Eine Legende aus uralten Zeiten ist es, und sie handelt vom Tod des einstmals real existierenden Königs Yazdgerd III. im Jahre 651 n. Chr.. Der war der letzte König des Sassanidenreichs und damit auch der letzte Großkönig Persiens. Der Charismatischste war er wohl nicht - und der Erfolgreichste schon gar nicht. Der arme Kerl hatte schon im Alter von acht Jahren den Thron bestiegen; da ist es mit einer kraftvollen Aura noch ein bisschen schwierig. Die Macht übernahmen de facto die Militärs, und so recht gaben sie die auch nicht mehr ab, als Yazdgerd das Mannesalter erreichte. Gefolgschaft, das zeigen die Schauspieler am Schauspiel Köln in einer Szene recht deutlich, leisteten sie allenfalls dem Titel, nicht der Person. Nach seinem glücklosen Krieg gegen die Araber verlor Yazdgerd endgültig das Vertrauen weiter Teile der Eliten und der regionalen Machthaber. Als er im Jahre 651 n. Chr. auf der Flucht starb, war das Sassanidengeschlecht am Ende. Die Araber eroberten das persische Reich.
Soweit die Fakten. Im Stück des hierzulande ziemlich unbekannten „persischen Shakespeares“ Bahram Beyzaie führt Yazdgerds Tod zu zahlreichen Verwicklungen. Der Vergleich von Beyzaie mit Shakespeare mutet ein wenig merkwürdig an: Beyzaie hat zwar ein Königsdrama oder besser ein Königstod-Drama geschrieben, aber er gehört zu den zeitgenössischen Autoren. Er schrieb sein Stück im Jahre 1979 - im Jahr, in welchem der Schah verjagt wurde und die Ayatollahs ihr menschenverachtendes fundamentalistisches Regime etablierten. Später emigrierte Beyzaie, wegen der massiven Einschränkungen seiner Arbeit durch die Mullah-Zensur verarmt, in die USA. Die Ayatollahs herrschen immer noch; Machtkämpfe gibt es allenthalben, und die Lage der Frauen im Iran ist mutmaßlich nicht besser als zu Yazdgerds Zeiten, auch wenn viele von ihnen auch nach der islamischen Revolution im privaten Bereich ein durchaus widerständisches und selbstbewusstes Leben führten. Seit ein paar Monaten lehnen sie sich auch in der Öffentlichkeit auf. Und so hat uns das konventionell erzählte Stück aus uralten Zeiten plötzlich doch eine Menge zu sagen.
Die Legende will, dass Yazdgerd im Hause eines Müllers starb. Möglicherweise tötete der den König, nicht aus eigenem Antrieb vermutlich, sondern im Auftrag des Statthalters von Merw. Ein solcher Mord an dem von Gott Gesandten wurde wiederum nach persischem Glauben und persischen Traditionen als schwerer Frevel betrachtet. Der Müller dürfte also in einer ziemlichen Zwickmühle gesteckt haben. Rings um des Müllers Heim herrschte Krieg, als Yazdgerd verloren ging. Links und rechts der zentralen Bühnenkonstruktion liegen im Schauspiel Köln Jacken und Kostüme, vielleicht auch Uniformen auf dem Boden und versinnbildlichen die Opfer der Waffenkämpfe. Im warmen Licht von Jan Steinfatt, von einer rot-gelben Sonne (und später einmal von einem blauen Mond) beschienen, steht der Hof des armen Müllers: Ein wenig unglaubwürdig angesichts von dessen finanziellen Schwierigkeiten wirkt die großzügige Einfassung des Mühlengrundstücks durch eine halbrunde, aufgelockerte Mauer mit orientalischen Mustern. Rund wie ein Mühlstein ist das in der Mitte ausgebreitete, aus kleinen Steinchen zusammengesetzte Zentrum, auf dem das edelste der Toten-Kostüme aufgebahrt ist: der König. Wie schon in Mina Salehpours Inszenierung der Roman-Trilogie von Ágota Kristóf (siehe hier) spielen auch in der Folge-Arbeit der Regisseurin Ziegelsteine eine Rolle: rötliche Steine, die Teil der Mauer bilden, aber auch auf dem Boden liegen, möglicherweise übrig geblieben von den Zerstörungen des Krieges, und die mal abwägend in die Hand genommen, mal auch als Waffe oder zumindest als Bedrohung eingesetzt werden. Privater Besitz ist labil in der Diktatur der Macht. Die Musik hat manchmal, aber nicht immer orientalische Anklänge; Mark Bérubé, ein Meister der mit Motiven aus aller Welt angereicherten Folkmusik, der sich gelegentlich bei seinen Auftritten unter die Schauspieler mischt, steuert mal zurückhaltend, mal raumfüllend großartige Gesänge bei. Bühne, Licht und Sound sorgen für eine berückende, in sich meist homogene Atmosphäre.
Text und Handlung hingegen bergen immer wieder Überraschungen. Denn wie und warum Yadzgerd in der Mühle unter die Räder geriet, weiß man nicht so genau. Der General (Andreas Grötzinger mit der selbstverständlichen Autorität des Mächtigen) wüsste es gerne: Schließlich braucht er eine vernünftige Hinrichtung, möglichst verbunden mit grausamer Folter, und dazu hätte er idealerweise gern einen einleuchtenden Grund. Doch ob sich Yazdgerd bei dem Müller versteckte, ob der Müller an dem schlafenden König einen Auftragsmord ausübte, ob der Herrscher ihn um Assistenz bei einem geplanten Selbstmord bat, ob er den Müller arrogant um seinen wenigen Besitz erleichterte, ob er dessen Frau und Tochter missbrauchte und so die Rache des Müllers herausforderte oder ob gar der Müller und der König die Rollen getauscht haben - nichts Genaues weiß man nicht. Verschiedenste Varianten der Geschichte werden durchgespielt. Dabei gibt es bisweilen überraschende Rollenwechsel, denen das Publikum aber schnell auf die Spur kommt. Aufgelöst wird das Rätsel nicht.
Die Inszenierung kommt nicht nur etwas konventionell, sondern manchmal auch etwas statisch daher. Stefko Hanushevsky als Müller bricht diese Statik immer wieder auf, wenn er die alternativen Szenarien mit pantomimischen oder ironischen Einlagen nachspielt. Der in Armut lebende, möglicherweise von den Mächtigen instrumentalisierte Mann hat nicht wirklich Angst vor dem Tod: „Ich trenne mich dann von meinem Zwilling, dem Elend“, sagt er gelassen und kontert die Frage nach dem überraschenden Verzicht auf jeden Fluchtversuch mit Lakonie: „Ich katte kein Maultier, es zu beladen.“ Die Frau des Müllers wird mit einer Mischung aus Bescheidenheit und Selbstbewusstsein von Elmira Bahrami gespielt. Vor allem ihre persisch-sprachigen Einsätze haben Klang, Kraft und Poesie und lassen sie als die stärkere Hälfte des Ehepaares erscheinen; großartig und kraftvoll ist auch ihr Wutausbruch, als sie vorübergehend die Rolle des Königs übernimmt.
Der König ist auf der Flucht und hätte wohl abdanken müssen - wie der Schah im Jahre 1979, als das Stück entstand. Die Statthalter der Macht peitschen Menschen aus, lassen sie notfalls einfach auf Verdacht foltern und unterscheiden sich damit kaum von den Schergen der Machthaber in der heutigen Islamischen Republik Iran. Die Parallelen zwischen der im Stück geschilderten Situation im Jahre 651 und den Vorkommnissen seit 1979 sind frappierend. Aber Parallelen lassen sich bis ins Heute ziehen. Die Macht haben die Militärs - wie im Niger, wie in vielen anderen autoritären Staaten. König Yazdgerd war schwach, und der Müller ist es auch in Beyzaies Stück. Die Frauen aber - neben der Müllersfrau auch Rebecca Lindauer als „Mädchen“ - beweisen Mut, Stärke und Intelligenz wie die iranischen Frauen heute, die seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini gegen das brutale Regime auf die Straße gehen, die sich offenbar zum Teil unter Lebensgefahr weigern, Kopftücher zu tragen, und damit das Regime, das einen zweiten Fall Amini vermeiden will, in eine Zwickmühle bringen. - All diese aktualisierenden Gedanken muss Mina Salehpour nicht ins Rampenlicht stellen. Die alte Legende entwickelt ihren Zauber, und ihre Relevanz im Heute erklärt sich von allein.