Fragen, die gestellt werden müssen
Es ist das Ende eines langen, spannungsreichen Theaterabends. Die Mitglieder des Schauspielensembles lesen Auszüge aus dem Westfälischen Friedensvertrag von 1648, mit dem vor 375 Jahren in Münster und Osnabrück der Dreißigjährige Krieg beendet wurde. Wie aktuell, ja brisant die dort getroffenen Aussagen und Forderungen gerade heute sind, haben die Beteiligten in den gut drei Stunden davor mit vielfältigen Annäherungen an das Thema „Krieg und Frieden“ sehr nahe gebracht.
Westfälischer Frieden: da bietet sich Schillers Wallenstein als Grundlage natürlich an. Allein ob der zeitlichen Verortung. Doch dem Team um Regisseur Stefan Otteni geht es um mehr: Gemeinsam mit dem Ensemble will er die Fragen, die Schiller aufwirft, vertiefen und aktualisieren. Wie entsteht Krieg? Kann Krieg im Frieden enden? Welche Prämissen bedarf es dazu? Wird die hässliche Fratze des Krieges immer erkannt? Überwiegen ökonomische Interessen oder wird der „menschlich-gesellschaftliche“ Faktor mit aufgenommen? Was ist mit Liebe in Zeiten der Weltzerstörung?
Viele Fragen, denen sich alle Beteiligten ohne vorher bestimmte Antworten nähern. Sie stellen diese Fragen, tasten sich an mögliche Antworten heran, um diese dann wieder zu relativieren. Großartig, dass Otteni den Schiller-Text immer wieder als Grundlage der Auseinandersetzung präsentiert. Denn alle Fragen sind dort enthalten - und nach ein wenig Einhören in Schillers zunächst befremdlich-altmodisch daher kommende Sprache spürt man schnell deren gewaltig-explosive Kraft.
Viel Schiller gibt es also. Und dann immer wieder Ausdeutungen, man könnte fast sagen: exegetisch-kommentierende Texte, die das Ensemble Schillers Wallenstein zur Seite stellt. Wir hören eine Hetzschrift Martin Luthers, in der er aus der Friedfertigkeit seiner Religion heraus zum Kampf bläst. Wir hören den verzweifelten Ruf nach pazifistischer Grundhaltung, die offensichtlich nicht mehr gefragt ist. Geradezu verzweifelt mahnt eine leise Stimme an: „Und was ist, wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch im Grunde gut ist?“ Das hat im Kriegsgetöse keine Chance gehört zu werden. Sachliche Debattenbeiträge sind eh‘ nicht gefragt. Das macht das Ensemble deutlich. Und so geht auch ein Beitrag, der die Genderfrage anspricht, fast unter. Bewegend, weil direkt das Herz ansprechend, ist eine Sequenz aus Joël Pommerats Die Wiedervereinigung der beiden Koreas mit dem Titel „Liebe“. Eine Mutter fordert ihren Mann auf zu verhindern, dass ihr Sohn in den Krieg zieht und stellt dabei auch ihre Beziehung in Frage. Er weigert sich. Wir sehen und hören diesen Text drei Mal. Beim zweiten Mal mit vertauschten Rollen, zuletzt in ukrainischer Sprache. Kann ein Text mehr sagen über die tiefe Verzweiflung, in die Menschen gestürzt werden, müssen sie Entscheidungen treffen, die sie sich nie hätten vorstellen können?
Peter Scior baut eine Bühne, die sich anfangs mit Papierbahnen verhängt, später nach hinten öffnet. Von der Decke fallen Kleidungsstücke von gefallenen Soldaten, die sich nach und nach zu einem riesigen Berg auftürmen. Für Schillers Wallenstein wird die Hebebühne hochgefahren und wir befinden uns in einem Feldlager, eilig errichtet und mit einem Berg aus gestapelten Möbeln bestückt.
Zusammengehalten werden all‘ die so unterschiedlichen Szenen, die doch thematisch kongruent sind, durch die Bühnenmusik. Bettina Ostermeier leistet mit ihren Arrangements und als ausführende Musikerin Unglaubliches und schmiedet diesen Abend zu einer Einheit. Wir hören von „Verleih uns Frieden gnädiglich“ über Brechts „Kinderhymne“ bis zu Nicoles unsäglichem „Ein bisschen Frieden“. Passendes und gewollt Unpassendes zum Thema. Die Schauspieler*innen singen vor allem in den Ensembles gut. Und sie werden unterstützt durch die fein agierende Statisterie. Gesanglich bleibt da aber doch noch Luft nach oben.
Das gilt ganz und gar nicht für die darstellerische Leistung: Katharina Brenner, Frank-Peter Dettmann, Agnes Lampkin, Pascal Riedel, Carola von Seckendorff und Artur Spannagel geben ihr Bestes. Möchte man jemanden hervorheben, so sind das Rose Lohmann und Julius Janosch Schulte, die als Schillers Liebespaar ihre Zuneigung in einer kriegsverpesteten Luft so frei und herrlich frisch geben, dass es eine Freude ist und ein Quäntchen Hoffnung gibt.
Stefan Otteni und seinem Team gelingt ein sehr runder Theaterabend, der Denkmaschinen ankurbeln kann und dazu animiert, sich die „Klassiker“ doch einmal wieder genauer anzusehen.