Allein in einer fremden Welt
Ehre, wem Ehre gebührt: Obwohl beides nicht ganz zu trennen ist, ist hier erst einmal nicht die Regisseurin Tanja Weidner hervorzuheben, sondern Weidners Leistung bei der Dramatisierung von Joseph Roths Hiob. Weidner geht ungemein sensibel vor und deshalb gelingt es ihr, nicht nur Figuren in Dialogen perfekt zu charakterisieren. Sie beschwört auch die Stimmung herauf, die Roths Roman innewohnt: Eine leise Melancholie zu Beginn, deren destruktiver Kern immer mehr Raum gewinnt.
Roth erzählt die Geschichte des Thora-Lehrers Mendel, der arm, aber gottesfürchtig in einem kleinen russischen Dorf lebt. Gott prüft ihn, er verliert nach und nach seine Kinder und seine Frau, ehe er nach vielen Jahren seinen verlorenen Sohn Menuchim wiedertrifft. Gott belohnt ihn für seine Leidensfähigkeit und sein Gottvertrauen. Eine klassische Hiob-Geschichte also? Darauf setzt Tanja Weidner ihren Schwerpunkt nicht. Sie transportiert einen anderen Strang des Inhalts: Wie reagieren Menschen auf Flucht und ihr Versetztwerden in eine völlig fremde Umgebung, die sie fordert und Anpassungsstrategien verlangt?
Mendel Singer ist durchaus bereit, seine Lebenssituation in den USA zu verbessern und dafür auch den behinderten Sohn Menuchim zurückzulassen. Weidner kontrastiert das Bühnengeschehen mit Video-Interviews ukrainischer Flüchtlinge, deren Ausgangssituation eine gänzlich andere ist. Aber ihre Erfahrungen und Schwierigkeiten mit dem Einleben in eine völlig neue Lebenswelt korrespondieren mit denen Mendels. Das Ziehen dieser Parallelen, aber auch Unterschiede zu benennen, ist Dreh- und Angelpunkt von Weidners Inszenierung.
Dazu gelingt es ihr, Mendel Singers Familiensituation in ganz besonders intimer Art und Weise herauszuarbeiten: Der an Epilepsie erkrankte Menuchim ist eine einfache Gliederpuppe, deren weißer Kopf sich mit einem Holzknopf bewegen lässt. Den bewegen seine Geschwister und leihen ihm auch ihre Stimme für das einzige Wort, dass er beherrscht: „Mama“. Sie hassen und lieben Menuchim zugleich und finden im Spiel mit der Puppe auch einen Weg, ihre Sehnsucht nach Anerkennung durch ihre Eltern auszudrücken - ihren Platz in der Familie zu finden.
Weidners Mendel ist kein wirklicher Hiob. Zu schnell äußert er Zweifel an seinem Gott, verliert seinen Glauben. Den findet er auch nicht wieder, als er den verloren geglaubten Sohn in die Arme schließt. Jürgen Lorenzen verkörpert ihn mit jeder Faser glaubwürdig. Dringt in diesen Charakter ein und liefert eine bewundernswerte Studie. Das ist ganz großartig!
Ivana Langmajer ist Deborah, Mendels Frau. Sie scheuert klaglos Böden in Russland. In Amerika erblüht sie zu einer selbstbewussten Frau, um am Ende ganz jüdisch durch Haare ausreißen ihre toten Söhne zu betrauern und dann zu sterben. Langmajer gestaltet eindrücklich und prägend. Das tun auch ihre Kinder - verlorene Seelen allesamt, die vergebens um einen Platz im Leben ringen. Florian Bender, Rosana Cleve und Alessandro Scheuerer spielen irrlichternd und verzweifelnd die Suche nach sich selbst. Gregor Eckert übernimmt sehr souverän die kleinen Rollen, denen er Individualität zu verleihen versteht.
Alle agieren in Annette Wolfs sinnfälliger Bühne, die durch Säulen beherrscht wird - naturfaserig-bröckelnden in Russland, glänzend-massiven in Amerika. Catharina Volbers‘ Klarinette gibt dem Geschehen Atmosphäre und kommentiert die Handlung leise, aber bisweilen auch klagend-aufschreiend.
Tanja Weidner gelingt eine berührende Dramatisierung von Joseph Roths Hiob, die lange nachklingt. Das ist sicher keine für das Wolfgang-Borchert-Theater typische Produktion, deren Mut aber viele Zuschauer*innen verdient, denn die zukünftige Intendantin hat wieder einmal ihr ungemein feines Gespür für „bühnenreife“ belletristische Texte unter Beweis gestellt.