Hoch droben im Kellerloch
Schon die Spielstätte ist ein Hit. Draußen vor der Tür der Mischanlage empfängt uns der Soundtrack von Alex Silva, ein dröhnendes Maschinengewitter, das an eine Zeit erinnert, als die Essener Zeche Zollverein noch aktiv war. In der dunklen Eingangshalle versammeln sich 130 Menschen. Plötzlich: eine geheimnisvoll lockende Stimme. Wie von Geisterhand öffnet sich die Stahltür an der rechten Seite der Wand. Im Gänsemarsch geht es nun los: Hinunter ins Kellerloch heißt hier hinauf auf den Turm, 140 Stufen hoch über zahlreiche Etagen, fast immer im Dunkeln, mal auch durch gelben Nebel, mal vorbei an einem tiefen schwarzen Schacht, der von hellen Lichtfunken bespielt wird, immer entlang der Wracks und Ruinen alter Maschinen oder Stahlträger. Den Aufstieg begleitet eine Geräuschkulisse aus pochendem Sound, fernem Donner (vielleicht von durch die Anlage transportierter Kohle?) und wiederholten, ebenso fernen Rufen: „Nein, nein, nein!“ Eine wandelnde Negation ist auch die Figur, die gleich ihre existenzialistisch anmutenden, so hochmütigen wie selbstquälerischen Gedanken aus dem Kellerloch präsentieren wird: Ganz oben in der Mischanlage wohnt Nina Hoss. Wohnt Fjodor Dostojewskis namenloser ehemaliger Beamter, der sich seit 20 Jahren von der Welt zurückgezogen hat. Er ist erst 40 Jahre alt. „Wer wird denn älter als 40 Jahre? Nur Spitzbuben und Dummköpfe“, wird das vorwiegend ältere Publikum charmant empfangen…
Regisseurin Barbara Frey inszeniert, bevor sie sich Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch widmet, in ihrer letzten Inszenierung als Ruhrtriennale-Intendantin erst einmal die Spielstätte, und Ausstatterin Bettina Meyer unterstützt sie dabei grandios. Auch der Raum oben in der eigentlichen Spielstätte ist karg, aber dem Ort des Bühnengeschehens angemessen eingerichtet. Nina Hoss agiert meist von einer etwas erhöhten Empore aus. Über ihrem Sessel hängt ein leerer Vogelbauer: Sinnbild für den freiwilligen Rückzug aus der Welt der tatkräftigen Schönen, Reichen und Erfolgreichen, den Dostojewskis Protagonist vor langen Jahren angetreten hat. Quer durch den Raum verläuft ein langer Steg, den Hoss mehrfach entlangläuft und von dem aus sie ihr Publikum, dem sie ihre scheinbar ungeschriebenen, stattdessen spontan gedachten „Aufzeichnungen“ vorträgt, immer wieder unmittelbar anspricht.
„Wittern Sie die Schmach der Anpassung", war dieses Publikum vor dem Aufstieg aufgefordert worden. Die Person im Kellerloch ist alles andere als angepasst. Sie lehnt diese Anpassung, mit der die Zuschauer diszipliniert den Turm erklimmen, vehement ab. „Ich bin ein kranker Mensch, ein böser Mensch, ein abstoßender Mensch“, stellt sie sich vor. Und widerspricht sich kurz darauf, indem sie ihre im wahrsten Sinne des Wortes asoziale Lebensweise mit ihrer Ablehnung von Utopien und allgemeinem Fortschrittsglauben rechtfertigt. Widersprüchlichkeiten sind es ohnehin, die diesen komplizierten selbstbezüglichen Monolog auszeichnen, den Nina Hoss im Kellerloch hoch oben über dem Erdgeschoss brillant bewältigt, dessen Sprache sie zu genießen scheint und den sie vor allem mit ihrer Mimik und Gestik gestaltet. Dostojewskis Protagonist denkt unablässig und niemals widerspruchsfrei - und desavouiert gleichzeitig das Denken in seinem Monolog.
Sympathisch ist diese widersprüchliche Kellerassel nicht: Sie hat etwas Narzisstisches und gleichzeitig etwas Selbstverachtendes, ist gleichzeitig selbstverliebt und voller Selbsthass. Ihren Rückzug aus der Gesellschaft und die daraus resultierende Tatenlosigkeit rechtfertigt sie mit ihrem (für sich selbst als Krankheit betrachteten) übersteigerten Bewusstsein und ihrer Ablehnung des gesellschaftlich akzeptierten und geforderten „Tatmenschen“, der nur „ein im Großen und Ganzen beschränktes Wesen“ sei. Mit Verachtung blickt sie auch auf unsere Welt mit ihren Kriegen und Krisen: Das „Blut fließt in Strömen ... Die größten Blutvergießer sind meist hochzivilisierte Menschen.“ Sie räsoniert über Schuld und Verzweiflung, über Klugheit und Genuss. Genuss liegt für den Menschen im Kellerloch unter anderem im Bewusstsein seiner eigenen Erniedrigung, in der Unterwerfung unter den Tatmenschen respektive der eigenen Ausgrenzung aus der den Tatmenschen erhöhenden Gesellschaft.
Barbara Frey beschränkt sich in ihrer Inszenierung auf den essayistischen ersten Teil des kurzen Texts, der vielen als die philosophische Grundlage für viele der Romane Dostojewskis gilt. Der Protagonist, gemessen an seinen Aussagen wahrlich ein abstoßender Charakter, ist zwar voller Defätismus, aber immer mal wieder glaubt man zu spüren, dass er auf der Suche nach der Fähigkeit zu einer echten Empfindung ist. Und nach dem „Beweis, dass der Mensch ein Mensch und keine Klaviertaste ist“, auf der die Natur beliebig herumspielen kann. Die Suche nach diesem Beweis eint tatsächlich fast alle der verzweifelten, lebensunfähigen, in ihrer Seele verletzten und ihrem Verhalten durchgeknallten Figuren aus Dostojewskis Romanen.