Übrigens …

Die Brüder Karamasow im Bochum, Schauspielhaus

Wenn Smerdjakow den Kohl schnibbelt

Der Unterschied zwischen Tolstoi und Dostojewski sei, so erklärte dem Schreiber dieser Zeilen einst ein befreundeter, sehr belesener Neurologe und Psychiater, dass die Figuren aus Tolstois Romanen alle erst nach und nach bekloppt würden, während sie bei Dostojewski von vornherein schwere Fälle für die Psychiatrie seien. Das macht die Lektüre von Dostojewski manchmal trotz aller literarischen Qualität so enervierend. Echte Identifikationsfiguren gibt es kaum, dafür aber ellenlange Diskurse über Gott, die Moral, die Frauen und die Welt. Was steckt nicht alles in Dostojewskis in der Taschenbuchausgabe des Fischer-Verlags mehr als 1200 Seiten langem Spätwerk Die Brüder Karamasow: Kriminalroman und Familien-Tragödie, ironisches Gesellschaftspanorama und Komödie, theologischer Diskurs und philosophisches Traktat. Es treten auf: drei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten und unablässig um sich selbst kreisen; ihr Vater, der ein äußerst fragwürdiger Charakter ist und einen weiteren (unehelichen) Sohn demütigt und verleugnet; ein paar Frauen, die nahezu ausnahmslos durch einen ausgeprägten Hang zur Hysterie auffallen; ein Heiliger, der Starez Sossima, bei dem der jüngste der Brüder Karamasow als Mönch in die Lehre geht, und viele andere mehr. Es gibt einen Mord mit einem Gerichtsverfahren, das zu einem Fehlurteil führt; es gibt unglückliche Liebschaften, Betrügereien und unzählige Nebenhandlungen. Erstaunlicherweise ist es einigen Regisseuren gelungen, all das erfolgreich und höchst unterhaltsam in vier Stunden auf die Bühne zu bringen (dem Münsterländer Thorsten Lensing zum Beispiel [siehe hier], oder wenige Jahre zuvor dem Belgier Luk Perceval am Thalia Theater Hamburg). Johan Simons, seit einigen Jahren ohnehin so etwas wie der Entdecker der Langsamkeit, braucht sieben. Vielleicht gerade deshalb schenkt er dem Schauspielhaus Bochum einen unvergesslichen Event.

Da ist erst einmal der Blick auf die von Wolfgang Menardi gestalteten Bühnen. Plural, kein Tippfehler. Die Spielfläche im Schauspielhaus ist eine Mischung aus Abstraktion und dezenten Hinweisen auf den Ort der Handlung, nur selten so konkret wie im Falle der Glocke, die für das Kloster der von Elsie de Brauw würdevoll und weltklug, aber unprätentiös gespielten Stariza Sossima steht (ja, der Starez ist ein Frau, ganz selbstverständlich, und zwar eine, die alles andere als hysterisch ist, sondern fest im Glauben und auf einem moralischen Fundament steht). Natürlich hat die einsam und unverbunden in der Gegend herumstehende Glocke noch eine zweite Funktion: Sie steht für Gott und die Religion in den wiederkehrenden Diskussionen zwischen den atheistischen und gläubigen, zweifelnden und fast fundamentalistischen Protagonistinnen und Protagonisten des Stücks. Ein paar Ikonen sind achtlos an die Wände gelehnt; der Kanonenofen, der vielleicht die Wärme eines Familienlebens versinnbildlichen könnte, ist ziemlich an die Seite gerückt: Wärme, die durch familiäre Nähe entstehen könnte, ist den Karamasows fremd.

Weit geöffnet bis auf die Hinterbühne ist die Szene, ach was, weiter noch: Über eine senkrechte Videoscreen, die wirkt wie eine Tür oder ein Spalt in der Wand, blicken wir weit über die Bühne hinaus durch die Gänge vor den Garderoben der Schauspieler bis hinein in die Karamasowsche Küche. Unablässig, stur und emotionslos werkelt dort ein junger Mann, den wir erst im zweiten Teil als Smerdjakow identifizieren. Der Mann teilt Kohlköpfe; diszipliniert weiß er sein Messer zu führen. Was mag in diesem „Lakaien“, als den ihn der unleidliche, unsympathische, provozierende Fjodor Pawlowitsch bezeichnet, vorgehen? Man ahnt es Stunden später, wenn man beiläufig erfährt: Smerdjakow ist Fjodors unehelicher Sohn.

Später, in eben jenem zweiten Teil, zu dem wir über die Bühne und die Garderobengänge hinüber in die Kammerspiele gewandert sind, werden wir Oliver Möllers Smerdjakow in seinem Reich aus der Nähe erleben. So abstrakt die Bühne im Schauspielhaus war, so fast schon hyperrealistisch ist diese Küche, eingerichtet mit allem Zick und Zack im 60er oder 70er Jahre Bauernküchen-Chic, mit silbern glänzenden Küchengeräten, weißen Kacheln und Fliesen und Platz genug, um alle Karamasows nebst ersehnten, aber niemals sich materialisierenden Frauen und Kindern und Schwiegereltern zu bekochen. Dass es die Frauen, Kinder und Schwiegereltern nicht gibt, ist nicht verwunderlich, denn Liebe gibt es ja ebenso wenig wie Wärme bei den Karamasows - nur Sehnsüchte, die aber nichts als Selbstsüchte sind. „Die Karamasows sind Lüstlinge und Geizhälse“, heißt es einmal in einer Selbst-Diagnose - Illusionen über ihre eigene Verkommenheit machen sie sich nicht.

Die Küche wird zum Schauplatz manch länglicher philosophischer Diskussionen zwischen Fjodor und den von ihm anerkannten Söhnen, den „eigentlichen“ Brüdern Karamasow. Diese haben kaum weniger Hass auf ihren selbstsüchtigen, verkommenen Vater als der „Lakai“. Wenn Fjodor Pawlowitsch ermordet am Boden liegt, weiß man jedenfalls: Ein Mordmotiv hätten sie alle. Doch vor dem Mord gibt es ein Dinner: reichhaltig, schmackhaft und zügig serviert, damit das Publikum die Dramatisierung des etwas redseligen Mammut-Romans sieben Stunden lang aushält. Die Mahlzeit ist vegetarisch, aber kein fleischloses Solo: ein exzellentes Drei-Gang-Menü mit (allerdings tatsächlich fleischlosem) russischem Borschtsch als Vorspeise, zu dem vermutlich der arme Smerdjakow den Kohl geschnibbelt hat. Als es zurückgeht zum dritten Teil, der wieder auf der Bühne des Schauspielhauses stattfindet, ist diese mit Schnee und Eis bedeckt. Wärme ist den Karamasows fremd, die Kälte aber nimmt zu…

Und doch: Ringt vielleicht nicht nur der jüngste Sohn Aljoscha um seinen Glauben? In den Diskussionen zwischen den Brüdern, auch mal mit der Chochlakowa der Jele Brückner oder ihrer anrührenden, aber bei Danai Chatzipetrou auch erstaunlich selbstbewussten behinderten Tochter Lise geht es um die orthodoxe Lehre, um Tod und Teufel und die Frage, ob es einen Teufel geben kann, wenn es Gott nicht gibt. Iwan vertritt im Grunde die Theorie, dass der Mensch nur deshalb gelegentlich moralisch handle, weil er an die Unsterblichkeit glaube. Wenn dieser Glaube entfiele, sei grenzenloser Egoismus das Gebot der Stunde. Iwan ist es, der später auf den Teufel treffen wird, der - ein Schelm, der Böses dabei denkt - von der gleichen Schauspielerin gespielt wird wie die „Heilige“ Stariza: Sollte es Gott wider Erwarten doch geben, dann gibt es wohl auch den Teufel, und vielleicht ist er gar ein und dieselbe Person. Aber ob es Gott gibt, weiß auch der Teufel nicht so genau…

Schauspielerisch tragen die drei - oder besser gesagt vier - brillant spielenden, unterschiedliche Lebensleitlinien und Philosophien vertretenden Brüder die Inszenierung. Oliver Möller haben wir bereits erwähnt: Lange spielt er den geschundenen Smerdjakow zurückhaltend und geheimnisvoll, bevor er zu einem faszinierenden Intriganten wird; selbst als er mit einem (echten oder simulierten?) epileptischen Anfall vom Stuhl fällt, tut er das ohne dramatisches Getöse. Auch so kann man einer Figur Wirkmächtigkeit verleihen. Dominik Dos-Reis‘ Aljoscha straft den Schreiber dieser Zeilen Lügen: Mag sein, dass auch ihm die Wärme fremd ist, aber zumindest sehnt er sich danach. Schüchtern, aber fest im Glauben, in den er sich wohl aus Unsicherheit, vielleicht gar aus Angst vorm Vater geflüchtet hat, bei dessen Auftauchen er stets in sich zusammensackt, versucht er die zahlreichen Konflikte auszugleichen und den Provokationen des atheistischen, manchmal hintersinnig ironischen Iwan zu widerstehen. Es ist Widerstand, aber nicht Kampf, den er liefert: Zum Kampf ist Aljoscha zu pazifistisch veranlagt, und als die Stariza stirbt, gerät er in eine veritable Glaubenskrise. Steven Scharf gibt den intellektuellen Iwan als introvertierten Typen, der weiß, dass er mit seinem aufgeklärten Denken ins Leere läuft - eine Sphinx sei er, heißt es einmal, was Scharfs Spiel zutreffend beschreibt. Aus heutiger Sicht ist er so, wie Scharf ihn spielt, der „normalste“ der drei Brüder, während der älteste die größte Macke hat: Stotternd, stolpernd und in höchstem Maße unstet gibt Victor IJden den eigentlich doch so soldatischen Dimitrij, der auch zwischen zwei Frauen hin und her stolpert. Wobei Simons die Rollen der bei Dostojewski so enervierend schrillen, total durchgeknallten Frauen dankenswerterweise reduziert hat: Katerina Iwanowna tritt gar überhaupt nicht auf, und die Chochlakowa und ihre Tochter sind deutlich weniger bekloppt als in Dostojewskis Roman.

Auch wenn das bis ins Detail durchdachte Inszenierungskonzept, die visuelle Darstellung und das Schauspiel überzeugend auf die Bühne gebracht werden, sollte man hellwach sein, wenn man die Aufführung besucht: Des langen Tages Reise in die Nacht ist anstrengend, und nicht immer ist der Rhythmus der Aufführung perfekt. Doch anstrengend ist auch die Lektüre des Romans, von dem die Inszenierung nur durch Kürzungen, nicht durch Umdeutungen abweicht. Manche seiner Zumutungen (siehe die literarische Ausgestaltung der Frauenfiguren) erspart uns die Aufführung. Schlafen Sie sich erstmal gut aus - und dann reisen Sie mit Dmitri, Iwan und Aljoscha kreuz und quer durch den Bochumer Theatertanker. Sie werden es nicht bereuen.