„Die ganze Welt ist Ausland.“
Nuran David Calis machte sich bereits einen Namen mit seinen sehr ungewöhnlichen, am politischen Tagesgeschehen orientierten Inszenierungen, u.a. zur Keupstraße („Die Lücke“, „Glaubenskämpfer“, „Istanbul“) und zuletzt mit „Mölln 19/22“. Er beschäftigt sich in diesen Produktionen intensiv mit den Themen Migration und Rassismus.
In seiner neuen Arbeit befasst sich Calis mit dem vielschichtigen Phänomen „Flucht“. Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, tun dies meist nicht aus freien Stücken, sondern gezwungenermaßen. Politische Verfolgung und Ausbürgerung sind nur zwei von vielen Gründen. Europas Außengrenzen an Land und auf See werden jedoch streng bewacht. Illegale Pushbacks und schwere Menschenrechtsverletzungen im Rahmen dieser Grenzsicherung sind infolgedessen ein häufiges Phänomen.
Auch im Leben von Calis spielte Flucht eine Rolle. Flohen doch seine Eltern kurz vor dem Militärputsch in der Türkei 1980 nach Deutschland und bekamen dort Asyl.
In dem Abend Exil. Eine europäische Erzählung befasst sich der Regisseur nicht nur mit Fluchtbewegungen aus verschiedenen Ländern, sondern auch mit den Gefühlen der Flüchtlinge in dem für sie neuen Land. Und wie werden sie dort aufgenommen?
Die Bühne zeigt einen großen Glaskäfig, ein treffendes Bild für die Abschottung der darin befindlichen Personen. Über der Bühne drei große Projektionsbildschirme. Vor Spielbeginn der gesehenen Vorstellung wird das Publikum informiert, dass Oleksii Dorychevskyi, ein ukrainischer Schauspieler, der mit zum Ensemble dieses Abends gehört, im Sommer in die Heimat fuhr und dort von den Behörden festgehalten und zum Militär eingezogen wurde. Eigentlich sollte er die Geschichte seiner Flucht aus Kiew, mit Frau und Kind, erzählen, übersetzt von Stefko Hanushevsky, Andreas Grötzinger liest den Text des ukrainischen Kollegen vor.
Zunächst dominiert das Thema ukrainische Flüchtlinge. Die Texte werden zum Teil von den Schauspielern gesprochen, zum Teil sieht man die Personen auf den Bildschirmen. Stefko Hanushevsky berichtet von seinen Großeltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Ukraine nach Deutschland flohen. Wir hören von Frauen, die ihre Männer in der Heimat lassen mussten, von Männern, denen man, wenn sie geflohen waren, vorwarf, sich nicht aktiv an der Verteidigung der Heimat zu beteiligen. Aber wir erfahren auch, wenn sich die Schauspieler links an einem gutbürgerlichen Tisch versammeln, was man sich in Deutschland so „zusammenredet“. Warum ukrainische Flüchtlinge uns hier von der Mentalität her näher sind als Flüchtlinge aus Syrien. Man erfährt, warum es heute mehr Widerstand gegenüber Flüchtlingen gibt als 2015. Wobei sie durchaus „gefragt“ sind, wenn es um schlecht bezahlte Jobs wie Pflege- und Putzkräfte oder Paketausfahrer geht.
Erschütternd dann der Bericht über die Flüchtlingsströme aus Afrika, die über das Mittelmeer gehen. Die Schauspieler lesen Erfahrungsnotizen von Betroffenen vor, wie grausam und beschwerlich sich die Reise oft gestaltet. Und welche Alpträume sie immer noch verfolgen, wenn sie endlich im „gelobten Land“ angekommen sind,
Am Ende des Abends kommen die Schauspieler aus dem Kasten heraus. Ein Pult mit Laptop wird hereingerollt. Sie sprechen mit Oleksii in der Ukraine, der von seinen Vorbereitungen im Militärdienst berichtet. Es gibt weitere Skype-Anrufe nach Griechenland. In Lesbos spricht Patrick, ein NGO-Mitarbeiter, mit uns. Er analysiert die Situation dort und versteht nicht, warum die 5000 Flüchtlinge nicht in Europa untergebracht werden können. Hassan aus Uganda ist homosexuell. In seiner Heimat steht darauf die Todesstrafe. Noch ist er auf Samos, aber zwei Asylanträge wurden schon abgelehnt. So hat er nur noch eine dritte Chance. Keiner im Zuschauerraum bleibt unberührt
Man geht heim mit einer Mischung aus Frust, Wut und Hoffnungslosigkeit. Ein wichtiger Theaterabend mit einem sehr guten Ensemble. Zu nennen sind noch: Ismael Deniz, Kristin Steffen und Michaela Steiger.