Die Sprache wird zur Schöpferin des Kunstwerks
Wahrscheinlich muss man sich das ungefähr so vorstellen: Irgendwann ganz spät im Probenprozess, als sogar das Programmheft schon gedruckt war, fiel dem Regisseur auf, dass er in der geplanten Aufführungsdauer von maximal dreieinhalb Stunden unter Beibehaltung des bisherigen Tempos gerade mal zwei Drittel des Stücks abhandeln konnte. Für späte politische Nebenfiguren wie Fortinbras blieb sowieso keine Zeit. Und außerdem: So wie die Sache lief, dachte der Regisseur, das Stück hieße eh besser „Playing Hamlet“ als Hamlet. Laurent Chétouane ließ also kurzerhand einen neuen Besetzungszettel drucken: ohne Fortinbras, aber mit ein paar anderen Präzisierungen und mit dem Hinweis, dass die Aufführung jeden Abend nach gut drei Stunden enden werde. Man schaue mal, wie weit man bis dahin gekommen sei. Jeder Abend sei eben anders.
So oder ähnlich muss das gewesen sein. Anders kann man sich das Einlegeblatt im ursprünglichen Programmheft nicht erklären, und natürlich stimmt das skeptisch. Hat der Regisseur während der Probenarbeit kapituliert? War das Team überfordert? Wer Laurent Chétouanes herausfordernde frühere Schauspiel-Inszenierungen kennt (seit einigen Jahren konzentriert er sich nahezu ausschließlich auf das Tanztheater), kann das kaum glauben. Polarisierend waren seine Inszenierungen fast immer, lang auch, und häufig - wie in seinem Kölner Faust I aus dem Jahre 2008 - konzentrierte er sich dabei ausschließlich auf die Wirkung der Sprache, auf ihre Poesie, ihre Vielfältigkeit, auf die von ihr gelassenen Interpretationsspielräume. So auch diesmal. Völlig zu Recht belässt er in seinem neuen Beipackzettel den Titel beim Original: Hamlet statt „Playing Hamlet“. Denn er lässt sein vorwiegend blutjunges Schauspieler-Team weitestgehend den Original-Shakespeare-Text sprechen - nicht den romantisierenden in der Übersetzung von Schlegel und Tieck, sondern die Übersetzung von Heiner Müller. Kürzungen? Naja, gibt’s, wenige, aber wichtige: ganze Szenen werden weggelassen, und vor allem: Kein Mensch stirbt in dieser Aufführung. Aktualisierungen? Naja, gibt’s, aber unwichtige, die sich auf die eine oder andere etwas flapsigere Formulierung beschränken. Das Ensemble, das meist auch dann, wenn es nichts zu tun hat, auf der nackten Bühne herumlungert, schaukelt sich langsam hinein in das Stück, probiert zu sprechen wie junge Leute von heute es tun würden, bleibt anfangs fast ohne jede Körperspannung. Das hat seine Tücken: Ophelia wirkt wie 15 - Puah Kriener spielt leider auch so. Sie wird nicht sterben, aber sie wird auch nicht erwachsen. „Laertes“ Jonas Dumke ist 25 - ein netter älterer Bruder und eher unauffälliger, aber zuverlässiger Freund des Hamlet. Der, also Furkan Yaprak, ist 24 und gerade der Schauspielschule entronnen - und sucht nach der Verbindung zum Text.
Ophelia wirkt unbeholfen. Vielleicht soll das so - überzeugend ist es nicht. Ist auch Hamlet unbeholfen? - Nee, der ist vor allem sensibel - und überzeugt. Insbesondere die jungen Männer zeigen, was sie auf der Schauspielschule gelernt haben: Textarbeit. Sie formen keine Rollen mit fest definierten Charakterzügen aus, sondern hören auf den bei Heiner Müller zwar etwas moderneren, aber immer noch hochanspruchsvollen Text und testen, wie er wirkt (und das kann natürlich täglichen Veränderungen unterworfen sein). Überraschenderweise funktioniert das zunehmend gut. Spätestens nach der frühen Pause, als die Schauspieler sich eingegroovt haben, erreicht die Aufführung ihr Publikum, das mucksmäuschenstill und konzentriert den meist sehr leise sprechenden Akteuren lauscht. Es entsteht Spannung, im optimalen Falle gar so etwas wie eine Spannung zwischen Schauspielenden und Zuschauenden. Wie mächtig die Sprache ist - und wie sie ihre Macht verliert, wenn man sie nicht pfleglich behandelt und souverän zu benutzen versteht -, zeigen die Schauspieler in der berühmten kabarettistischen Polonius-Szene im 2. Akt - Sie wissen schon: als die Königin dem umständlichen und liebedienerischen Geschwafel des wichtigtuerischen Verwalters, Beraters und Kämmerers mit einem beherzten „More matter, less art“ ein Ende zu bereiten sucht. Zappelig bietet Thomas Hamm seine Erkenntnisse und Halbweisheiten dar, und binnen kurzem hört ihm keiner der zahlreichen Aachener Bühnenfiguren mehr zu. Ganz anders sieht das aus während des charismatischen Auftritts der „Ersten Schauspielers“ aus der reisenden Schauspiel-Truppe: Wenn der vom rauen Pyrrhus und dessen Mord an Priamos spricht, dann ist das plötzlich (anders als in den meisten Hamlet-Inszenierungen) große Schauspielkunst, und Hamlet steht gebannt da, hört mit höchster Konzentration und erkennbar fasziniert zu. Yaprak, vor der Pause noch ein Suchender, läuft in der langen zweiten Halbzeit zu großer Form auf und entwickelt in solchen Szenen selbst als stummer Zuhörer große Präsenz.
Ein charismatischer Erster Schauspieler, ein zappeliger Polonius? Ja, es gibt nun Szenen echten Schauspiels, Szenen, die etwas mit Charakterdarstellung zu tun haben. Auch Hamlet wächst nach und nach ein Charakter zu: der des leisen, nachdenklichen Manns mehr als der eines rachsüchtigen Sohnes. Das hilft bei der Rezeption nach der Pause: Das Suchen allein, wie es in der ersten Stunde dominierte, hätte vermutlich nicht über drei Stunden getragen. Ohnehin hört man, dass die Inszenierung das Publikum bei der Premiere noch gespalten habe. Die zweite oder dritte Aufführung, die der Schreiber dieser Zeilen besuchte, traf ganz überwiegend auf positive, teilweise gar begeisterte Resonanz. Man war auch vorgewarnt bezüglich des plötzlichen Endes und der ausbleibenden Tode. Kurz nach der „Mausefalle“ hört die Aufführung nämlich einfach auf. Ganz unlogisch kommt einem das gar nicht vor. Da alle noch leben, Ophelia nicht ins Wasser, Polonius nicht hinter den Vorhang und Rosencrantz und Güldenstern nicht nach England gegangen sind, kann ruhig auch das übrige Gemetzel ausbleiben. Es fehlt einem nichts.
Zuvor hatte die Aufführung noch einen Subtext entwickelt. War Chétouane daran gelegen, eine Étude über die Wirkung der Sprache, der Poesie und der Shakespeare’schen Metaphern auf die Bühne zu bringen, so entsteht - zufällig oder gewollt - gegen Ende eine Untersuchung der Wirkmächtigkeit des Theaters. Und darüber, wie das Theater unser Leben abbildet und unser Leben zum Theater wird. Man hebt schon die Hände zum Schlussapplaus, als ein Schauspieler noch einmal die nun leere Bühne betritt und Heiner Müller zitiert: „Vor dem Spiegel zerbrechen die Masken. Kein Schauspieler nimmt mir den Text ab. Ich bin das Drama.“