Hochmut und Moral, Idealismus und Eigensinn
Einmal fällt Raskolnikow in die Newa. Selbst die hat Bühnenbildnerin Lara Hohmann in der winzigen Friedhofskapelle an der Rheinberger Straße untergekriegt, der kleinsten und magischsten Spielstätte des Schlosstheaters Moers. Schottersteine und ein paar verdorrte Pflanzen fassen den Fluss ein, hinter dem sich wohl das Studierzimmer Raskolnikows befindet, dann aber auch die Wohnung der Pfandleiherin Aljona Iwanowna. Ein paar Bücher liegen auf dem Fensterbrett; mit Hilfe eines Fahrrad-Dynamos erzeugen Lola Fuchs oder Joshua Hupfauer in der ärmlichen Studentenbude ein wenig Strom. Kommunikationszentrum aber ist die Bar „Little Crimes“, in der Barkeeper Ludwig Michael den Zuschauern erstmal einen Vodka ausgibt. Über Raskolnikow heißt es, dass er jede Gesellschaft fliehe: „Es zog ihn nicht zu den Menschen.“ Und doch hängt er ab und zu in der Bar ab, bramarbasiert und widmet sich seinen Gedanken: Wäre es ein Verbrechen, einen Menschen, der einen anderen Menschen aussaugt, auszulöschen? Nein, denkt er, es wäre sogar eine Pflicht. Bei der Ausübung dieser Pflicht geht so manches schief. Vielleicht ist der Sturz in die Newa, von Panik begünstigt, schon der Beginn der Strafe für das Verbrechen.
Gibt es einen gerechten Mord? Wird ein einzelnes Verbrechen nicht durch tausend gute Taten wettgemacht? Gibt es einen Unterschied zwischen den gewöhnlichen Menschen, die sich an Gesetze halten müssen, und den Außergewöhnlichen, Auserwählten, die über dem Gesetz stehen sollten und zu denen Raskolnikow sich selbstverständlich zählt? Fast alle Verbrechen werden aufgeklärt, weiß Raskolnikow, und so stellt sich zudem die Frage: Gibt es das perfekte Verbrechen, den perfekten Mord? - Njet, kann man bald sagen. Der emeritierte Jura-Student bringt die alte Pfandleiherin um und redet sich ein gutes Gewissen ein, hat die Dame doch selbst „Leben vernichtet“, indem sie viele an Armut leidende Menschen in noch tiefere Not und Verzweiflung stürzte. Doch bei der Tat misslingt so ziemlich alles, was misslingen kann. Handwerker drohen den Mörder zu überraschen, Aljonas Schwester Lisaweta wird zur Tatzeugin und muss beseitigt werden, Raskolnikow plagen wider Erwarten doch Gewissensbisse - und zu guter Letzt plagt ihn auch der Staatsanwalt.
In Moers wird der Mord unter Einsatz von Lichttechnik und Sound hochspannend geschildert. Carlotta Salamon bringt die verworrene Geschichte mit nur dreieinhalb Schauspielern und Schauspielern zzgl. Joanne Gläsel als vom Band eingespielter Sprecherin auf die Bühne. Ab und zu tritt Johanna Kroneck als geisterhafte Polenka, die im Alter von 14 Jahren versterbende Tochter des von Raskolnikow unterstützten arbeitslosen Trinkers Marmeladow, durch die Außentür der Kapelle. Bei den letzten Grabsteinen des früheren Friedhofs, bei der „Ausstellung der Ehemaligen“, wie die Schauspieler es nennen, werden wir sie wiedersehen und ein Totenmahl für den verstorbenen Marmeladow einnehmen. Alle übrigen spielen Raskolnikow und schlüpfen zusätzlich in eine Reihe anderer Rollen; manche Texte werden chorisch gesprochen, manche Erläuterung wird vom Band gespielt, mancher Romantext einfach zitiert.
„Hat man nicht die Pflicht, Gesetze zu überschreiten, einfach nur der Verwirklichung einer Idee wegen?“, fragt Lola Fuchs einmal, und Hupfauer argumentiert: „Ich habe keinen Menschen ermordet, ich habe ein Prinzip ermordet.“ Dieser dreieinige Raskolnikow - ist er ein Idealist? Ist er ein Fanatiker? Ist er ein sensibler, der weniger privilegierten Gesellschaftsschicht zugewandter Wohltäter? Ist er größenwahnsinnig und hochmütig? Ist er geisteskrank? - In Carlotta Salamons Inszenierung von Verbrechen und Strafe ist er von allem etwas. In einer großartigen Wutrede lässt Joshua Hupfauer einmal Dampf ab, doch das wird seinem Raskolnikow nicht den Druck von der Seele nehmen. Er ist vor allem ein Mörder. Und ein Egoist, der bald geplagt sein wird von Ängsten und Verfolgungswahn: Die Gefühle der Opfer? Sie sind „nicht meine Sache, weil es nicht meine Gefühle sind.“
Salamon konzentriert sich in ihrer - naturgemäß stark gekürzten - Theaterfassung des Romans auf die Krimi-Handlung, ohne die zahlreichen philosophischen und religiösen Motive, die in Dostojewskis 1866/67 erschienenem erstem großem Roman schon genauso auftauchen wie in seinen späteren Werken, zu vernachlässigen. Salamon will, so ist im Programmzettel nachzulesen, den Dostojewskis Text auch als Existenzroman verstehen sowie Parallelen ziehen zwischen der offensichtlich verbrecherischen Tat eines einzelnen Mordes und deren Bestrafung einerseits sowie dem straflos bleibenden „unsichtbaren“ Morden der Industriegesellschaft, die durch verschwenderisches handeln den Klimawandel herbeiführt, andererseits. Ehrlich gesagt: Diese Verbindung hat sich dem Schreiber dieser Zeilen trotz ein paar passender Lieder und Videos nicht erschlossen. Aber das Dilemma des Lebens zwischen tiefer Armut und dem Wunsch nach respektabler Bürgerlichkeit bringt die Regisseurin durch entsprechende Fokussierung der Aufführung auf die entsprechenden Romanstellen auf den Punkt. (Dass die Literatur manchmal etwas klischeehaft mit der Schilderung der Armut umgeht, verschweigt sie nicht.) „Armut ist keine Sünde, und Trinken ist keine Tugend“, weiß Raskolnikow, wenn er mit Marmeladow in der Bar sitzt. „Aber bettelarm ist eine Sünde.“ Sonja, die tugendhafte Tochter des Trinkers, hat sich auf Veranlassung ihrer Mutter als Prostituierte verdingt, um sich und ihre Familie durchzubringen. Raskolnikow wird später zu ihr - und nur zu ihr - Vertrauen fassen und seine Tat gestehen.
Salamon gelingt eine großartige Mischung aus anspruchsvollem Diskurstheater und unterhaltsamem, spannendem Krimi - und das mit sehr eigenwilligen Theatermitteln. Im Verlauf des Theaterabends entwickelt sich allein durch die „Schnittfassung“ eine spannende Diskussion über Moral, Mitleid und Eigensinn, über Egoismus und die mangelnde Nachhaltigkeit von Anteilnahme. Großartig, ja, sogar vergnüglich ist das versteckte Duell zwischen dem von Joanne Gläsel vom Band gesprochenen Staatsanwalt Porfirij Petrowitsch und dem nervösen, aber längst nicht geständigen Raskolnikow. Vielleicht, sinniert der zunehmend von seinen Skrupeln in den Wahnsinn getriebene Mörder, hatte sein Verbrechen nicht die richtige ästhetische Form? Aber warum sollte ein Bombardement eine ehrenwertere Form sein?
Ein großer Benzinkanister wurde gleich zu Beginn der Aufführung in die Kapelle geschleppt. Lola Fuchs, Joshua Hupfauer und Ludwig Michael gießen ihn in der engen Kapelle, in der wir dicht gedrängt um das Spielfeld sitzen, nun aus. Sie nehmen ein Streichholz und zünden es an…