Ein altes Zirkuspferd
Ein langweiliger Ehemann, der schon gestorben ist. Ein Sohn, der sie nur widerwillig besucht und dann auch nur in die Glotze stiert. Finanziell ist Anne-Marie abgesichert, kann aber keine „großen Sprünge“ machen. Was aber am meisten an ihr nagt: Für die ganz große Bühnenkarriere hat es dann doch nicht ganz gereicht. Da sind andere an ihr vorbei gezogen. Gigi zum Beispiel, die sie beim ersten Engagement in Paris kennenlernt. Die wird das ganze Leben Freundin und Konkurrentin zugleich bleiben - auch über Gigis Tod hinaus.
Yasmina Reza schreibt Anne-Maries „gesprochene“ Autobiografie als Monolog. Und der hat es in sich: Weniger aufgrund sprachlicher Virtuosität, er fordert vielmehr die ganze Spannbreite darstellerischer Fähigkeiten heraus. Ob sie mit großen Augen erzählt von der Schauspieltruppe in der Stadt ihrer Kindheit, ob geradezu plastisch klar wird, dass auf der Chaiselongue Gigi mit blonder Haarpracht sich lasziv ausbreitet und alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, ob Anne-Marie angewidert ist von der Knoblauchfahne ihres Bühnenpartners, all das beschwört Meinhard Zanger in seinem Solo suggestiv herauf. Kann dazu noch andere Personen auf die Bühne zaubern wie den angebeteten, weil so „kultivierten“ früheren Hausarzt. Dabei bleibt er fast hypnotisch in stetem Blickkontakt mit seinem Publikum: „seht her“, scheinen seine Augen zu sagen, „jetzt geht es allein um mich, Anne-Marie, die Schönheit“.
Als Schauplatz für diese Wahnsinns-Performance baut ihm Annette Wolff ein kleines Schmuckkästchen auf die Bühne des Wolfgang-Borchert-Theaters - einen winzigen Raum, dessen Wände mit rotem Samt bezogen zu sein scheinen. Darin stehen ein winziges Sofa und eine kleine Kommode, auf der der Kopf einer Büste liegt. Am Schwung der Lippen ist unschwer zu erkennen, dass Zanger hier selbst Modell gestanden hat. Gekleidet ist er in einen chicen cremefarbenen Hosenanzug.
Mehr als diese Mini-Fläche bedarf es auch nicht für das, was Meinhard Zanger an diesem Abend meisterhaft vorführt: die Entwicklung einer Bühnengestalt mit all‘ ihren Schattierungen. Zanger verwandelt sich in Anne-Marie mit ihren Niederlagen, den kleinen Triumphen, der Angst vor Einsamkeit und Demenz. Für das Publikum ist er die gealterte Schauspielerin trotz seines Geschlechts, trotz seiner Funktion als Intendant, als den ein Großteil der Zusehenden am Premierenabend ihn kennen.
Aber es gibt auch viele Momente des Augenzwinkerns. Gemeinsam mit Regisseurin, Ehefrau und baldiger Nachfolgerin Tanja Weidner enttarnt Meinhard Zanger quasi „angeborene“ Schwächen des Berufs Schauspieler*in. Die Vorstellung, dass es ohne Beruf nicht geht - einmal Zirkuspferd, immer Zirkuspferd! Dann wäre da auch noch das - sagen wir mal - recht gut entwickelte Selbstbewusstsein und unerschütterliche Gewissheit, doch der/die Beste zu sein und von großer Wichtigkeit. Da sprechen nicht Worte, sondern auch Zangers Blicke auf die eigene Büste Bände.
Am Schluss sinken die Wände der kleinen Spielfläche langsam zu Boden, schaffen Platz für Neues: Yasmina Rezas Anne-Marie, die Schönheit ist ein wunderbarer Text, um mit Heiterkeit und einer gehörigen Portion Wehmut zu bilanzieren und Schauspielkunst zu zelebrieren. Meinhard Zanger nutzt die Gelegenheit, greift mit beiden Händen zu. So kennt man ihn! Riesenbeifall!