Übrigens …

No Shame in Hope im Oberhausen, Theater

Das Nazi-Reh von der Pommes-Bude

Das ist also das Happyend: eine ramponierte Imbissbude und ein schlecht gelauntes Reh“, stellt Carla fatalistisch fest, und Linn staunt: „Man kommt aus der Klinik, und nichts hat sich verändert. Derselbe Nieselregen, und die Ampel ist immer noch kaputt." - Drei Frauen sind nach längerer psychiatrischer Behandlung auf dem Weg in die Freiheit. Ein Reh schnuppert am Asphalt, und die drei sitzen vor der Pommesbude „Happyend“ und warten auf den Bus. Der fährt eigentlich regelmäßig. Zumindest tat er das bis Ende der 90er Jahre: zweimal am Tag. Gibt es denn in dieser tristen Stadt keinen Bahnhof? Gibt es denn kein Taxi, das die Wartenden fortbringen kann? - Bei solchen Fragen lacht sogar das Reh.

Das ist kein Reh. Das ist ein Nazi!“, poltert Anna Polke, die Pommesbuden-Besitzerin. Jedenfalls säuft das Reh unablässig Dosenbier und sitzt mit Gasmaske und Geweih auf dem Schädel an der Bushaltestelle. Dort zeigt ein alter Röhrenfernseher etwas affige Bilder von turnenden Männern und Frauen, kurz unterbrochen von marschierenden… ja, tatsächlich: Nazis. Die Frauen machen das, wonach Carla sich sehnt: Smalltalk. Ziemlich absurd, ziemlich witzig. Es nieselt, und die Ampel ist immer noch kaputt, aber die Perspektiven haben sich verschoben - ob das an der psychiatrischen Behandlung mit dauernden Gruppentherapien und seelischen Selbstentblößungen liegt oder an den manchmal etwas irrealen Lebenserfahrungen in der „ewig leicht betrunkenen BRD“, die in Svealena Kutschkes Text besungen wird, lassen wir mal dahingestellt. Nichts Genaues weiß man nicht - wie gesagt: Die Perspektiven verschieben sich. Die auf das Reh, die auf die fernen Hochhäuser, in denen niemals Licht brennt (haben die drei während ihrer sechswöchigen oder auch längeren Therapie die Apokalypse verpasst?), und die auf die Liebe auch. „Ich misstraue der Liebe“, sagt die lesbische Carla und sinniert darüber nach, ob man angesichts des Schönheitsideals von Leni Riefenstahl als aufrechte Antifaschistin nicht eigentlich dick sein müsste. Doch da braust Anna Polke auf: „Das ist jetzt reichlich unterkomplex. Die Liebe ist politischer Rückzug.“

Alle deine Küsse liegen in der Vergangenheit, und dazwischen Wunde, Wunde, Wunde“, heißt es einmal. Über ihre Wunden haben sie in ihren Gruppensitzungen gesprochen, auch wenn Carla sich nach Ansicht der anderen nicht wirklich geöffnet hat. Irgendetwas muss ja dazu geführt haben, dass Luca, Linn und Carla, drei sympathische junge Frauen, die nur unwesentlichneben der Spur zu sein scheinen, in der Psychiatrie gelandet sind. Waren es traumatische Erlebnisse? Leiden die drei an Angststörungen, an Depressionen? Haben sie einen Burnout? Während die drei jungen Frauen trotz Therapie noch an ihrer verschobenen Wahrnehmung leiden, ist Anna Polkes Imbissbuden-Besitzerin theoriegestählt und steht mit beiden Beinen auf der Erde. Genau genommen steht sie dort schon 90 Jahre und wendet Bratwürste. Was ist das für ein unsinniger Anspruch, glücklich sein zu wollen, fragt die burschikose Frau: „Wie soll man denn glücklich sein in dieser Gesellschaft? Da stimmt doch schon was in der Grundannahme nicht.“ Und sie diagnostiziert: „Ihr habt keinen Burnout. Ihr leidet doch nur am Kapitalismus!“ Die Essenz ihrer Therapie lautet: „Das subjektive Potential liegt im unzufriedenen Individuum.“

Polke ist mit ihren intellektuell anmutenden küchenpsychologischen Theorie-Einwürfen unglaublich witzig; nur wenn sie wütend wird, nimmt man ihr das nicht wirklich ab. Aber ob sie im Sinne ihrer Autorin recht hat mit der Diagnose, dass der Kapitalismus an allem schuld ist? Kutschke blickt in ihrer oftmals wie eine Groteske wirkenden Geschichte zwar auch auf die Bundesrepublik, die in ihrem ewig leicht betrunkenen Zustand (oder Lebensgefühl) ihre aktuellen Probleme und ihre historischen Belastungen verdrängt. Die in der Klinik getragenen Jogginghosen sind für den Zustand der sich in Illusionen und dem eingebildeten Gefühl moralischer Überlegenheit wiegenden Republik vielleicht realistischer als die an Schneewittchen, Frau Holle oder die Goldmarie erinnernden Märchen-Kostüme der drei Frauen, die eigentlich in die Realität entlassen werden sollen. Aber eigentlich quält die drei Frauen etwas anderes.

Da liege „ein Fremdkörper in meinem Bett“, berichtet eine: „Oder bin das etwa ich?“ Der Fremdkörper ist wohl das, was an genetisch weitergegebenen Erfahrungen aus weit zurückliegender Vergangenheit in ihnen steckt: vom Großvater, der ein Liebender war und gleichzeitig ein Nazi, der im Rahmen des Euthanasie-Programms die Kranken aus der Psychiatrie in den Tod geschickt hat, von der Großmutter, die während des Dritten Reichs Homosexuelle denunziert hat. Kutschkes Stück, das solch eine wunderbare Gleichzeitigkeit von Logik und Absurdität aufweist und dank des großartigen Spiels der vier Damen (neben Anna Polke noch Maria Lehberg, Ronja Oppelt und Franziska Roth) große Faszination entwickelt hatte, verliert ausgerechnet, als es zu seinem eigentlichen Thema kommt: der unbewältigten nationalsozialistischen Vergangenheit, in der die von sich selbst berauschte, so moralisch sich gebende BRD noch nicht ausreichend aufgeräumt habe. In Polkes Imbissbude purzeln nun haufenweise Briefe vom Dach: bis zu 90 Jahre alte Denunziationsbriefe, so alt wie die Bratwurstwende-Erfahrung der Pommesbuden-Polke. Der Bogen zur heutigen Wiedergeburt respektive dem aktuellen Erstarken rechten Gedankenguts scheint nicht so recht zu gelingen. Plötzlich wirkt das Stück altmodisch, thematisch und politisch wie vor 30, 40 Jahren. Doch dann folgt das harmonische Schlussbild, das man so gern verdrängen möchte: Jens Schnarre, der Typ mit der Gasmaske und dem Geweih, die er jetzt abgelegt hat, geht zur Telefonzelle. Er ist nett am Telefon, der Nazi, und sanft wie ein Reh. „Ich möchte mal wieder vorbeikommen“, sagt er. Und: „Vielleicht rück‘ ich bald ins Management auf…“