Weltverbesserung à la Robin Hood, aber anders
Wow, was ist das für ein Sturm und Drang, der diese jungen Leute bewegt! Was für ein Tempo, was für eine Rasanz liegt über Felix Krakaus Inszenierung! Der Regisseur hat Friedrich Schillers Die Räuber für ein jugendliches Publikum ab 14 Jahren adaptiert. Er hat den Plot stark gekürzt und ganze Handlungsstränge gestrichen, aber es ist Schiller, der hier gespielt wird: Der Grafensohn Karl Moor, getäuscht von einem durch seinen Bruder Franz gefälschten Brief und daher im Glauben, sein geliebter Vater habe ihn aus der Familie ausgestoßen, schließt sich einer Räuberbande an, wird gar zum Räuberhauptmann. Diese Räuberbande will die Welt verbessern, und dazu gehört für sie vor allem eine größere Verteilungsgerechtigkeit. Sie will den Prinzipien des Robin Hood nacheifern, wenn auch auf ihre eigene Art. In Krakaus Inszenierung für das Junge Düsseldorfer Schauspielhaus ist ihr Aufbruch in die böhmischen Wälder auch ein Aufbegehren gegen die „Normalität“, gegen die Spießigkeit der Eltern-Generation, gegen das „Establishment“. Karl und seine Freunde sind getragen von Enthusiasmus, von Euphorie, von Tatendrang. Ihr Aufbruch wird zum Klassenkampf gegen die Upper Ten, gegen die herrschende Klasse in ihren Kutschen und mit ihren Privilegien. Dass dabei die Gäule so manches Mal nicht nur mit den Kaleschen durchgehen, sondern auch mit den jugendlichen Weltverbesserern, kennen wir: So war es, so ist es und so wird es immer sein. „Wir wollen Räuber sein“, lautet die Losung – und das heißt: „Wir wollen tun, worauf wir Lust haben, und nehmen, was uns gefällt … Wir krempeln die Verhältnisse um. Wir wollen Cash und Krawall.“
Und es gibt Krawall. Es werden nicht nur Herrschaftsverhältnisse umgekrempelt, sondern es werden Kinder getötet, es wird eine Stadt niedergebrannt, es werden Glaube und Religion missachtet. Es gibt Cash – durch Plünderungen und Diebstahl. Karl, der mit moralisch integren Absichten in den Untergrund gegangen ist, entgleitet die Kontrolle, Spiegelberg meldet eigene Führungsansprüche an: „Ich bin das Filetstück der Bande.“ Da Spiegelberg sich erhebt über die anderen, verliert er deren Unterstützung – noch hört die Bande auf ihren stiller werdenden Chef. Der Angriff auf die Stadt hat 83 Tote gefordert; Kinder liegen unter den Trümmern, und als Razmann erzählt, wie ein Baby in seinen Armen starb, macht sich Betroffenheit breit. Totenstill wird es auf der Bühne und im Publikum. Als auch Roller im Kampf sein Leben lässt, entsteht der Wunsch nach einem Innehalten, nach Ruhe, nach Umkehr.
Karls ehemalige Geliebte Amalia taucht als Geist im Bühnennebel auf, danach Karls Vater, der alte Moor, schließlich auch Franz, der Intrigant. Sie führen Karl vor Augen, dass er auf Irrwege geraten ist. In aller Kürze wird die folgende tragische, tödliche Schiller’sche Handlung zusammengefasst, wobei das aus der Zeit gefallene Ende Amalias nicht erzählt, sondern der Fähigkeit des Menschen zur Verdrängung überantwortet wird. Mit Bitterkeit im Blick winkt Karl ab: „Auch das ist nicht gut ausgegangen.“ Karl wünscht sich, die Zeit zurückdrehen zu können, und zumindest gedanklich macht Krakau dies möglich. Die Zeit zurückzudrehen, heißt für die Räuber keineswegs eine Rückkehr zur Restauration der alten Ordnung. Ihnen geht es darum, einen Neuanfang zu wagen – Robin Hood, aber anders. Karl würde die Weltveränderung wohl mit einem deutlichen Mehr an Gesetzestreue anpacken, Spiegelberg erneut als Straßenkämpfer oder als Anführer einer Aktivisten-Truppe in den außerparlamentarischen Widerstand gehen. Aber auch Spiegelberg wirkt nun reflektierter, verantwortungsbewusster als zuvor, als er das Morden und Brandschatzen noch mit einem trotzig-affirmativen „Wir waren Scheiß-Kriminelle“ zu rechtfertigen versucht hatte und jegliches moralische Fundament verloren zu haben schien. Die Notwendigkeit der Weltveränderung stellt Krakaus Inszenierung nicht in Frage, die Gewaltanwendung dagegen schon.
Krakau und sein großartiges Schauspieler-Team erzählen die Geschichte zielgruppenadäquat als eine rasante, spannende und gleichzeitig humorvolle Abenteuergeschichte. Eine fast schon idyllisch anmutende abstrakte Bühnen-Landschaft aus Steinen und Schilfgras wird kontrastiert durch von der Decke hängende Neonröhren, die die in den verschiedenen Farben strahlen und mal die grünen Bäume des Waldes symbolisieren, mal - beim Brandangriff auf die Stadt - feuerrot leuchten und rotieren. In eine solche spannende Aufführung lassen sich ohne erhobenen Zeigefinger moralische Botschaften und sachdienliche Hinweise für den erfolgreichen Widerstandskämpfer einschmuggeln. Das jugendliche Publikum wird sie, wenn schon nicht intellektuell, so zumindest intuitiv verstehen: Der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Die Ausübung von körperlicher Gewalt ist mit moralischen Idealen nicht vereinbar und schadet den eigenen Zielen. Nicht monetäre Ziele haben Priorität, sondern: „Wichtig ist, dass es Leute gibt, die für dich da sind. Das Einzige, was zählt, ist, mit euch im Gras zu sitzen.“
Da klingt fast ein wenig Sehnsucht nach der Hippie-Kultur der 1968er durch. Nun, das war ja keine schlechte Zeit. Aber letzten Endes ist diese Botschaft nur einer von zahlreichen Hinweisen auf eines der wichtigsten Themen der Aufführung: die Notwendigkeit von Teamwork. Mannigfaltig wird das Thema variiert – sowohl inhaltlich als auch „technisch“. Spiegelberg scheitert mit seinem Versuch, die Chef-Rolle herauszukehren, und wird gar als Meuterer hingestellt, während Karl mit seinem kooperativen, werteorientierten Führungsstil die aus dem Ruder gelaufenen Bandenmitglieder wieder einzufangen versteht. Als Jonathan Gyles zu Beginn allein in einer Rückblende die Geschichte erzählt, wird er von dem auf die Bühne stürmenden Ensemble ironisch, gut gelaunt, aber unmissverständlich gestoppt: Die Geschichte muss im Kollektiv erzählt werden, ohne einen herausgehobenen Helden. Und so geschieht es: Es entwickelt sich ein geradezu perfektes Ensemble-Spiel, in dem neben Gyles auch Eva Maria Schindele, Yulia Yánez Schmidt, Caroline Adam Bay und Fatih Kösoglu ihre Auftritte haben, aber vor allem das Zusammenspiel überzeugt. „Manche Sachen gehen nur im Team“, heißt es immer wieder, und das belegt das Ensemble auch sprachlich: Die Geschichte wird in stetem Wechsel zwischen chorischem Sprechen und individuellem Schauspiel erzählt, wobei die in heutiger Alltagsprache gehaltenen Passagen meist von einzelnen Schauspielenden gesprochen, während die Original-Schiller-Zitate häufig chorisch dargeboten werden. Manche Sachen klingen eben besser im Team. Übrigens: Wunderbare Schiller-Zitate bringt das Team da zum Klingen, die geeignet sind, zumindest den einigermaßen sprachsensiblen Menschen im Publikum die Schönheit von Schillers Sprache und Metaphern zu erschließen: „Was sind wir für Menschen“, jammert Karl da: „Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt - … - mitten in den Blumen der glücklichen Welt ein heulender Abgrund!“ – Herrlich. (Lesen Sie bloß nicht die diesem Zitat vorausgehenden Sätze mit ihrem peinlich kitschigen emotionalen Pathos!)
Im heulenden Abgrund heißt es: Neustart wagen - so wie es die Räuberbande beschließt. Auch dazu gehört eine Menge Mut. Felix Krakau und sein Team sind großartige Mutmacher.