Von Liebe und Vertrauen
„Es gibt keine Nacht. Es gibt auch kein Morgen." Schon am Eingang zum Unterhaus empfängt mit schwarzer Maske und finsterer Miene "der bekannteste Türsteher der Welt" sein Publikum. Charon weckt keine Hoffnungen auf einen Wellness-Aufenthalt in der von ihm bewachten Unterwelt. Dort verwandelt sich Lou Zöllkau alsbald in Persephone nebst ihrem Gatten Hades. Ab und zu knurrt ein Hund: Es ist der Höllenhund Cerberus, der Wachhund mit seinen drei Köpfen, der dafür sorgt, dass die, die hier eintreten, alle Hoffnung fahren lassen müssen. Wer einmal in den Klauen des Hades ist, kommt nicht wieder ans Licht. Und diejenigen, die noch ihr Leben haben, kommen nicht hinein in die Unterwelt. Dumm für Orpheus, der auf verzweifelter Suche nach seiner Geliebten Eurydike ist.
Den Hund sieht man nicht; man hört ihn nur. Ohnehin ist es dunkel im Unterhaus des Düsseldorfer Schauspielhauses. Schnüre hängen von der Decke und verstellen den Blick; merkwürdige Geräusche und ferne Stimmen aus dem Off schaffen eine wenig heimelige Atmosphäre. Der freie Raum zwischen dem Publikum und der Spielfläche markiert eine Grenze: der Styx. Orpheus, bei Yascha Finn Nolting in weitem Rock und kurzem Hemd eine attraktive genderfluide Gestalt mit oftmals effeminierten Gesten und Bewegungen, kann den Fluss nicht überqueren. Er steht und fleht meist rechts vom Publikum, in erzwungener Distanz. Im Zentrum der Bühne stehen dagegen vor allem die beiden Frauen: Persephone und die von Fnot Taddese als orientalische Schönheit dargestellte Eurydike. Persephone – nun, vom letzten Mal, als der Schreiber dieser Zeilen die Göttin der Unterwelt im Theater traf, hatte er sie irgendwie düsterer in Erinnerung. Doch sie erweist sich eigentlich als ganz nett.Sie versteht sich prima mit Eurydike und klönt vertraut mit ihr - kein Wunder, sind sie doch beide nicht ganz freiwillig hier im Hades. Persephone wurde von Hades, ihrem heutigen Gatten, zwecks Zwangsheirat entführt, und Eurydike ist - "mit einem Knall, einem Winseln, oder einem Biss?" - aufgrund eines Schlangenbisses da unten gelandet, obwohl oben doch die ach so große Liebe des Orpheus auf sie wartete. Beide sehnen sich im Grunde nach dem Licht der Oberwelt - die eine, um ihrer amour fou zu entkommen, die andere, um ihrer amour fou nahe zu sein.
Ein bisschen "fou", ein bisschen verrückt ist Orpheus wirklich, steigt er seiner Geliebten doch mit einem Einmachglas voller Pfirsiche nach, um sie zu befreien. Eine Opfergabe sei dies, aus einer Zeit, als den Göttern nicht Tiere, sondern Früchte und Honig zum Zeichen der Verehrung dargebracht wurden. Pfirsiche also sollen die Götter bestechen – und natürlich Orpheus legendäre, zum Steine Erweichen schöne Lieder. „Lieder können prophetisch sein wie Träume“, heißt es. Doch weder Opfergabe noch Noltings großartige Gesänge nützen am Ende. Stattdessen müssen sich Orpheus und Eurydike einem Vertrauenstest stellen, den noch nie jemand bestanden hat – Sie wissen schon: Dreh‘ dich nicht um… - Setzt große Liebe nicht Vertrauen voraus? Entsteht Vertrauen nicht in einer wirklichen Liebesbeziehung ganz automatisch? Verschiedene Definitionen von Liebe klingen aus dem Off, wohl von Orpheus er- respektive gedacht. Eurydike vermisst ein verbindliches Wort von ihrem Geliebten – und empfindet eben nicht dieses unbedingte Vertrauen, das sie von ihrem Gatten erwartet. Orpheus lässt eine bedenkliche Selbstbezüglichkeit erkennen: Er will vergöttert werden, sieht sich als stolzer Held und Master of the Universe. Manchmal, so scheint es Eurydike zu dämmern, ist es von Vorteil, wenn man nicht miteinander reden darf: Wie oft bestehen Paare aus zwei Personen, die einander nicht zuhören wollen, sondern ungeduldig darauf warten, dass der oder die andere bewundernd den eigenen Heldentaten zuhört! Und so lernen wir: Auch eine amour fou beruht nie auf Vertrauen, sondern meist nur aus narzisstischer Selbstliebe. Auf der Bühnen-Rückwand werden die Namen großer Liebender aus Literatur und Geschichte projiziert – sowie die Daten ihrer Liebe: Caesar und Kleopatra, Romeo und Julia, Paris und Helena, Gertrude Stein und Alice Tokla, Thomas Mann und Paul Ehrenberg, Tennessee Williams und Frank Merlo und viele andere mehr. Große Liebesgeschichten haben diese Paare verbunden – kennen Sie viele, die gut ausgegangen sind? Manche sind nach wenigen Jahren gescheitert – an besseren beruflichen oder privaten Alternativen oder an gesellschaftlichen Zwängen, denen sich die eine oder der andere der Liebenden nicht unterwerfen wollte. Lebenslanges Vertrauen? Das ist ein großes Wort.
Das Autoren-Team und die Schauspielerinnen und Schauspieler erzählen die bekannte Geschichte von Orpheus und Eurydike nicht immer linear. Da steuert Orpheus schon mal rückblickend ein bisschen Historie aus der griechischen Mythologie bei, da reflektiert Eurydike die Gründe ihres Todes. Stück und Inszenierung stecken voller kleiner Hinweise, die zu entschlüsseln einem bildungsbürgerlichen Publikum Freude bereiten kann, die aber für das Verständnis und den Genuss der Aufführung nicht essentiell sind. So lässt sich Orpheus‘ Androgynie durchaus aus der griechischen Sagenwelt herleiten: In manchen Versionen des Mythos wendet sich Orpheus nach dem Tod Eurydikes vom weiblichen Geschlecht ab und pflegt nur noch homosexuelle Beziehungen. Der Pfirsichbaum, dessen Früchte Orpheus den Göttern der Unterwelt als Gastgeschenk darbietet, gilt in der daoistischen Mythologie als Symbol der Unsterblichkeit – vielleicht versteht man solche dezenten Hinweise aus dem alten China ja auch im griechischen Hades. Charon versucht Orpheus unter anderem unter Hinweis auf die tapfere junge Alkestis, die sich aus Liebe zu ihrem greisen, aber wesentlich egoistischeren Gatten Admetos aufopferte, abzuwimmeln.
Wie gesagt: Man muss das nicht alles entschlüsseln, um Freude an dieser Aufführung zu haben. Zöllkau, Taddese und Nolting spielen großartig, die Liebeslieder und Popsongs, mit denen Nolting den Hades, die Steine und das Publikum erweicht, dienen nicht nur als Erholungspausen, sondern gehören wie der gesamte Soundtrack von Timo Hein zu den Höhepunkten der nur 75 Minuten kurzen Aufführung. Die Musik trägt dazu bei, dass es im Hades gar nicht so schlimm ist wie man denkt: „Vor langer Zeit fanden die, die in der Unterwelt landeten, es schrecklich“, erinnert sich Persephone. „Heute gewöhnen sie sich schnell daran. Es ist nicht so anders als oben, sagen sie.“