Übrigens …

Prima Facie im Schauspielhaus Düsseldorf

Im Zweifel nicht mehr für den Zweifel

Im Großen Haus schaut man gleichsam auf eine Bühne auf der Bühne: eine Fläche bis zur dritten Sitzreihe nach vorne gezogen, seitlich und hinten durch orange gepolsterte Klappstühle begrenzt (vermutlich Plätze für die imaginäre Jury). Sonst nichts an Requisiten. Nichts, was auf einen Gerichtssaal verweisen könnte, obwohl ein Gerichtsdrama zu erwarten ist (Bühne und Kostüm: Esther Bialas).

Dann ein Knall, grellblendendes Licht blitzt auf und da ist sie: Tessa Ensler, junge Strafverteidigerin in weinrotem Businessanzug mit weißer Seidenbluse und blitzblanken Lackschuhen. Raumgreifend stellt sie sich vor: sie, die Star-Anwältin, eine der Besten , aus prekären Verhältnissen ganz nach oben durchgeboxt, auf der Law School, der Eliteschule, eine von Dreien, die es schaffte.

Jetzt spielt sie ihr Spiel, ja so nennt sie die Strategie ihrer Verteidigung von Straftätern in Vergewaltigungsprozessen. Schematisch, kühl konstruiert geht sie vor, amüsiert erspielt sie auf der Bühne die Dialoge ihrer Verhöre, verrät ihre Finten: gibt Verständnis vor, wiegt die Befragten in scheinbarer Sicherheit, wechselt von Arglosigkeit zu Schärfe und giftiger Analyse. Am Ende der Sieg. Sie vertraut dem Rechtssystem, setzt auf Prima Facie, will heißen „bis auf Widerruf“, meint die Grauzone, wenn Aussage gegen Aussage steht und begründete Zweifel aufkommen lässt. „In dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten. Tessa setzt auf die Strafprozessordnung, auf die „juristische Wahrheit“ - vielen Männern verschaffte ihre Taktik schon den Freispruch. Ungerührt von der Machtlosigkeit und Erniedrigung der klagenden Frauen in diesem „Spiel“, feiert sie mit Kollegen ihre Erfolge.

Das alles im Monolog. Bravourös wie Lou Strenger den nicht eben brillanten Text zum Strahlen bringt, uns in allen Figuren begegnet und doch am Ende nur das Drama der Protagonistin präsentiert: von der gefeierten Siegerin zum gedemütigten Opfer. Ohne Mikroport füllt Strenger den Saal mit ihrer Stimme, ihrer Körpersprache. Ein grandioses Solo!

Der Rollenwechsel passiert langsam. Zunächst Sex im Büro mit dem Kollegen Julian – von beiden belacht, dann eine unernste Affäre mit ihm, schließlich Ficken im eigenen Bett. Zuviel Alkohol, Übelkeit, Kotzen. Tessa will nur noch schlafen, sagt NEIN. Julian vergewaltigt sie.

Sie kommt zu sich. Für einen Moment kommt ihre Stimme über den Lautsprecher aus dem Off: „Plötzlich bin ich hellwach“. Sie duscht – mitten auf der Bühne steht sie hier und jetzt unter einem Duschstrahl. Das schicke Outfit, die tolle Haarpracht: alles ruiniert. Sie rennt durch die Stadt, zur Polizei, zur Forensischen Untersuchung.

Das Saallicht geht an, auf der Bühne rückt die hintere Stuhlreihe ganz nach vorn: in Gedanken sollen wir alle wohl Platz nehmen auf den Sitzen der Jury. Ein ohrenbetäubender Knall, über die schwarze Rückwand rasseln die Zahlen von 1 bis 782. „WARTEN, WARTEN“ erscheint in großen Lettern: 782 Tage dauert es, bis der Prozess vor dem Crown Court eröffnet wird. Laute Musik ertönt (Sounddesign: Heiko Schnurpel), auf der Rückwand erscheint „BEFRAGUNG“ und Tessa berichtet auch jetzt stotternd, verunsichert von den Fallen, in die sie, die Profi-Frau, tappte, gestellt von den cleveren Kollegen, zu denen sie sich noch kürzlich stolz zugehörig glaubte. Von Demütigungen, von Unterstellungen, etwa, dass die Anklage den Kollegen als Konkurrenten ausschalten solle. Wir erfahren Juristisches: dass die Beweislast beim Opfer liegt, die Unschuldsvermutung gilt, Recht nicht Gerechtigkeit bedeutet, im Zweifel für den Zweifel gilt., Am Ende fühlt sich Tessa Ensler retraumatisiert, erniedrigt, diffamiert, vom Vergewaltigungsopfer zur Lügnerin verschoben

Zum Schluss sitzt Tessa Ensler/ Lou Strenger gleichsam mit einem Statement der Autorin Susie Miller am Bühnenrand: Sie fasst die Forderungen – es könnten die der #Me Too Bewegung sein - zusammen, plädiert für Veränderung des aus männlicher Perspektive geprägten Rechtssystems, in das die weiblichen Erfahrungen sexueller Gewalt nicht hineinpassen. „Irgendwo, irgendwann, irgendwie. Irgendwas muss sich ändern“, konstatiert sie. Doch einen Lösungsvorschlag bringt auch das engagierte Stück nicht. Vermutlich hätte das aufmerksame Publikum das Fazit auch ohne den belehrenden Thesen-Schluss gezogen.

Die australische Autorin Suzie Miller ist selbst Juristin, arbeitete viele Jahre als Strafverteidigerin und Anwältin für Menschenrechte, bevor sie die Hinterfragung des Rechtssystems auf die Bühne brachte. Sie sieht das Gericht als Spiegel der Gesellschaft und glaubt an die gesellschaftsverändernde Wirkung des Theaters. Mit dem Namen „Ensler“ für ihre Protagonistin verweist sie bewusst auf die 1998 erschienenen anonymisierten Stimmen der „Vagina Monologe“ der amerikanischen Aktivistin Eve Ensler.

Das Stück PPIMA FACIE, das 2019 in Sydney uraufgeführt wurde und in London den Olivier Award erhielt, feierte auch am Broadway Erfolge, bevor es derzeit auf mindestens fünfzehn deutschsprachigen Bühnen zur Aufführung kommt. In Düsseldorf macht die brillante Lou Strenger den engagierten Text in der Übersetzung von Anne Rabe zu einem fulminanten Theatererlebnis. Der begeisterte Premieren-Applaus dürfte vor allem der Darstellerin gegolten haben.