Die Ware Liebe im Discounter
„Sezuan 24/7“ – dieser im unverkennbaren Design des Discounters Netto werbende Supermarkt hat immer auf – rund um die Uhr. Brechts Kapitalismuskritik kann man sich hinzudenken: Vermutlich werden die Gewerkschaften angesichts solcher Öffnungszeiten aufgeheult haben. Brechts Parabel von der bösen Welt im ausbeuterischen System und dem Scheitern der (oder des einzigen) guten Menschen an diesem System sollte ursprünglich „Die Ware Liebe“ heißen und spielt in einem fiktiven China. Ein paar so naive wie starrköpfige Götter begeben sich auf die verarmte Erde und suchen nach guten und gleichzeitig glücklichen Menschen. Falls sie einen finden – und sei es nur ein einziger -, darf die Welt so bleiben wie sie ist. Kurz vorm Scheitern ihrer Mission bekommen sie die Prostituierte Shen Te als Kandidatin anempfohlen. Sie schenken ihr tausend Silberdollar zum Überleben (wahlweise zum Investieren), und die kauft sich einen Tabakladen und verhält sich in ihrem Gutmenschentum so unbegreiflich blauäugig, dass all ihr Hab und Gut alsbald verplempert ist. Shen Te, Der gute Mensch von Sezuan, steht vor der Insolvenz, und so stellt sich auch für sie die Frage, ob sie der Liebe folgt oder besser der Vernunft. Sie kann sich nur aus der Bredouille helfen, indem sie sich gelegentlich in einen erfundenen Vetter verwandelt, den eiskalten Geschäftsmann Shui Ta. Das Verwandlungsspiel entwickelt sich erst zu einem Balanceakt und dann zu einem Ritt auf der Rasierklinge…
Warum Der gute Mensch von Sezuan in NRW plötzlich als Stück der Stunde wiederentdeckt wird, bleibt dem Schreiber dieser Zeilen ein Rätsel, denn Brechts allzu einfach gestrickte Parabel geht letzten Endes nicht auf. Dennoch hatten zuletzt kurz hintereinander verschiedene Inszenierungen des humorlosen Lehrstücks am Düsseldorfer Schauspielhaus ,am Schlosstheater Moers und am Schauspiel Essen Premiere. Und siehe da: In Essen kriegen sie tatsächlich einen lange Zeit unterhaltsamen Abend hin. Die in Israel geborene und seit 15 Jahren in Deutschland lebende Regisseurin Sapir Heller hat das Stück in einen Netto-Markt verlegt, den bei Brecht schmerzlich vermissten Humor hinzugefügt und das Ganze in höchst witziger Popart-Ästhetik inszeniert. Die Götter fahren als Kassiererinnen vom Himmel; die anderen treten in phantasievollen Waren-Kostümen auf: als Käse-Ecke oder Kartoffelsack, als Haferflocken-Tüte oder Knabberbox (hinter der mit Christopher Heisler zwar nur ein einziger Schauspieler steckt, der aber dank des genialen Designs der Snack-Verpackung gleich für eine achtköpfige Familie einschließlich Bruder Fischli steht). Rohes, von Fett durchzogenes Fleisch von der Metzger-Theke wird Sümeyra Yilmaz als Shen Te anlegen, wenn sie in die Rolle ihres fiktiven Vetters schlüpft. Als sympathische, hilfsbereite Kusine ist Yilmaz in dunkler adidas-Hose und rotem Kapuzen-Pulli die einzige halbwegs normal gekleidete Person. Noch glaubt sie, sie sei selbstbestimmt.
Kostüme und Bühnenbild von Viktor Reim sind erstmal ein Fest für die Augen und Anlass zum Schmunzeln. Natürlich ist die Metapher klar: Auch in der Welt des Supermarkts wird ausgebeutet, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden wie Ware behandelt. Aber letztlich ist es wie bei Brecht, an dessen Handlungsablauf sich die Inszenierung eng orientiert: Die Bilder sind irgendwie schief. Shen Te, die den von ihrem gottgegebenen Startkapital finanzierten Tabakladen zu einem Ort der Begegnung und der Nachbarschaftshilfe ausbauen will, wird von ihren dreisten, bösartigen, ach so ausgebeuteten Mitmenschen nach Strich und Faden ausgenommen und muss lernen, dass man als Wohltäterin nicht überleben kann, wenn man nicht auch auf Gegenleistungen besteht. Die Menschen, die als Ware behandelt werden, die Vermieterin Mi Tzü, die ehemalige Ladenbesitzerin Frau Shin, der Schreiner, der von Shen Te das Geld zu erpressen versucht, das er eigentlich von Frau Shin zu bekommen hat – sie alle mögen einstige Besitzende gewesen sein, aber sie sind verarmt, und Brechts Arme sind in diesem Stück unverschämt, dumm und feige. Man staunt, wie leicht die Figurenzeichnungen des kommunistischen Autors dessen Klassenfeind in die Hände spielen. Dabei hätte Shen Tes Ansatz Potential – wenn sie die Regeln der Sozialen Marktwirtschaft kennen würde. Dass sie selbst später (nur vorübergehend?) zur gnadenlosen Ausbeuterin wird, resultiert letztlich daraus, dass sie aufgrund früherer Missachtung der einfachsten ökonomischen Grundsätze mit dem Rücken zur Wand steht.
Die Ware Liebe ist auch im Discounter unerschwinglich. Die reine Menschenliebe führt geradewegs in die Pleite. Und Shen Tes individuelle Liebe zum Flieger Yang Sun scheitert ebenfalls: Letztlich ist auch der unglückliche, zu Beginn vor dem Selbstmord stehende Yang Sun eine dubiose Figur, dem finanzielle Sicherheit wichtiger als seine Liebe ist und der seine Braut als auszubeutendes Eigentum betrachtet. In ihren Beziehungen zu den Männern – und da ist Brecht wieder glasklar und spielt Sapir Hellers Interpretation in die Hand – wird Shen Te selbst zur Ware. Da nimmt frau wohl besser ihr Schicksal selbst in die Hand.
Die Schwächen und Widersprüche von Brechts Stück bekommt auch Sapir Heller am Schauspiel Essen nicht in den Griff. Die großartige Ausstattung und der Humor, mit dem die Regisseurin die Inszenierung angeht, helfen jedoch über weite Strecken des Abends über diese Schwächen hinweg. Schauspielerisch überzeugen vor allem Samantha Ritzinger als perspektivloser Wasserverkäufer Wang und Sümeyra Yilmaz in ihrer Verwandlungsrolle als Shen Te und Shui Ta, wobei sie als unglücklich agierende, aber warmherzige Wohltäterin die Herzen des Publikums zu rühren vermag, Auch Philipp Noack bringt in seinen ersten Auftritten den Trübsinn und die Melancholie des arbeitslosen, sich überflüssig fühlenden Fliegers gut über die Rampe. Er fügt der Aufführung sogar eine Prise trauriger Poesie hinzu. Hellers Inszenierung ist unterhaltsam und dennoch politisch; die Brecht’sche Gesellschafts- und Systemkritik wird deutlich. Viel wird über Brechts angebliches offenes Ende, über die Ratlosigkeit der Götter angesichts des Schlamassels auf der Erde diskutiert. Schon zu Beginn lehnen die Götter ab, sich mit Problemlösungen zu beschäftigen: „In die Wirtschaft können wir uns wirklich nicht einmischen“, sagen die vom Himmel schwebenden Kassiererinnen in Hellers Inszenierung. Doch nimmt man die Bedingung der Götter ernst, der zufolge zum Fortbestand des gegenwärtigen Systems das Auffinden eines sowohl guten als auch glücklichen Menschen erforderlich sei, erscheint augenfällig, dass die Welt nicht bleiben kann wie sie ist. Brecht fordert sein Publikum am Ende des Stücks auf, sich selbst eine bessere Welt auszudenken. Dass er damit die Umgestaltung der Gesellschaft zu einem gerechteren, sozialistischen System meint, dürfte auf der Hand liegen. Dass auch der Sozialismus nur mit Hilfe einer starken, wettbewerbsfähigen Wirtschaft funktionieren kann, hat die Geschichte mannigfaltig gezeigt.