Übrigens …

Mario und der Zauberer im Mülheim, Theater an der Ruhr

Wenn Populisten die Willensfreiheit lahmlegen

Baden geh'n, baden geh'n, das ist was für mich", klingt es zu Beginn fröhlich von einer knarzigen Schallplatte: "So ein Kuss in der Natur / gehört zur Kur." Ein Kuss, unter Hypnose erzwungen, ist es unter anderem, mit dem der undurchsichtige Cipolla den jungen Mario so erniedrigt, dass der den Zauberer auf offener Bühne erschießt.

Auch Rudi Schurickes Hawaii-Lied tönt über die Lautsprecher-Boxen im Foyer der Probebühne des Theaters an der Ruhr in Mülheim. Darüber gelegt sind Äußerungen von Menschen von heute zu ihren Urlaubserwartungen oder zu ihrem (fehlenden) Mut, populistischen Meinungsäußerungen entgegenzutreten: Im Urlaub wolle sie nicht gestört werden von diesen Schmuckverkäufern am Strand, sagt eine Frau. Exotik ja, aber nur in der eigenen Blase, denkt man. Mario ist einer von diesen Gigolos, die ihr mutmaßlich mediokres Einkommen als Strandverkäufer aufbessern – zwar nicht mit dem Verkauf von Schmuck, aber mit einem Angebot von kühlen Getränken. Daniel Maskow gibt ihn als einen scheuen, schüchternen, hochsympathischen jungen Mann. Anders als bei Thomas Mann taucht Mario in der Adaption der Novelle Mario und der Zauberer durch das Junge Theater an der Ruhr gleich zu Beginn auf. Er, der „Ritter der Serviette“ im Grand Hotel des fiktiven Ortes Torre di Venere, ist es, der als aufdringlicher Einheimischer (für die Touristen: Fremder) gemobbt und als hustender Kellner schließlich entlassen wird.

Thomas Mann schrieb seine Novelle unter dem Eindruck eines atmosphärisch offenbar nicht allzu entspannten Italien-Urlaubs in den Zeiten des aufkommenden Faschismus. Den Zauberer, der sich in der Realität eher als Hypnotiseur entpuppt und einzelne Besucher seiner Show mit seinen Kunststückchen bloßstellt, gab es wohl wirklich in jenen Ferien der Familie Mann. Thematisch sollte sich die Novelle – wie der Schriftsteller zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bestätigte – mit der Verführbarkeit des Menschen und den Grenzen seiner Willenskraft beschäftigen. Cipolla verführt sein in Trance versetztes Publikum zu Handlungen, die es nicht aus freiem Willen begeht (und auch niemals begehen würde); darüber hinaus erscheint auch die Touristenfamilie merkwürdig gehemmt: Obwohl sie sich im Urlaubsort unwohl fühlt, im Grand Hotel schlecht behandelt wird und mehrfach die Abreise erwägt, bleibt sie vor Ort und wechselt nur das Hotel. Obwohl sie die Show des Magiers als unangenehm und für die Kinder ungeeignet empfindet, verlässt sie den Ort des Geschehens nicht und wird Zeuge des Mordes.

Bald wurde die Novelle vor allem als eine Parabel auf den Faschismus und die Methoden eines Diktators interpretiert. Der Schriftsteller nahm diese für ihn günstige Interpretation später gern als eine Art von Windfall Profit mit, und die Beschreibungen der Atmosphäre im Urlaubsort sowie des Charakters und des Erscheinungsbildes des Hypnotiseurs muten tatsächlich geradezu prophetisch an. Die seltsam unbehagliche Atmosphäre am Ferienort entpuppt sich bald als eine merkwürdige Mischung aus Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Überheblichkeit. Cipolla ist der Dämon, bei Thomas Mann ein hässlicher, schnauzbärtiger (!) Zauberer, der das Volk gegen dessen Willen und zu dessen eigenem Unbehagen beeinflusst, verhöhnt und dennoch auf seine Seite zieht. Hässlich ist dieser Mann in der Aufführung des Jungen Theaters an Ruhr nicht; Tanja Kiewsky, die kurz zuvor noch Marios heftig flirtenden Mädchen-Schwarm Silvestra gespielt hat, gibt ihn als groß gewachsene, durchaus charismatische Figur, allerdings mit durchdringendem, vielleicht gar auf Entlarvung zielendem Blick. Auch die beiden übrigen Darstellerinnen, Hannah Sulk und Katharina Diehl, haben mehrere Rollen inne und schlüpfen in der entscheidenden Szene, als die Zauber-Show sich zuspitzt, vorübergehend in die Rolle des Magiers.

Das Team vom Labor 3 konzentriert sich in seiner nur 65 Minuten kurzen Aufführung auf die Aspekte der Verführungskraft durch Populisten und die Fremdenfeindlichkeit. Thomas Manns „Familiengeschichte“, die auf eigenen Erfahrungen der Familie Mann in ihrem Italien-Urlaub fußt, wird nur marginal gestreift. Aber die 1930 veröffentlichte Parabel erscheint angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer und rechtsradikaler Kräfte in vielen Teilen der Welt wieder hochaktuell und wird von den vier jungen Darstellerinnen und Darstellern des Jungen Theaters an der Ruhr mit einer überzeugenden Mischung aus Abstraktion und Realismus gespielt. Das Charisma eines potentiellen Diktators nimmt dem Volk seine Willensfreiheit. Cipolla wird niedergeschossen; das Blut der Schusswunde klebt noch an seinen Schläfen. Doch die Diktatur steht wieder auf. Über den Schlussapplaus hinaus hallt die Drohung des dämonischen Verführers nach: „Widerstand wird mir meine Aufgabe etwas erschweren. Doch am Ergebnis wird Ihr Widerstand nichts ändern. Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere.“