Temporeiche Liebeswirren
„Siehst du den Mond über Soho?“, fragt der Räuber Macheath seine Frischangetraute im kitschigen Liebesduett. Vielleicht wäre es besser gewesen, danach zu fragen, was der Mond über Soho alles sonst noch so zu sehen bekommt. Das ist nämlich in dieser Dreigroschenoper eine ganze Menge - so dass sich der Mond vermutlich verwundert die Augen reibt.
Denn eigentlich ist in Soho alles in Ordnung: Bettlerkönig Peachum macht seine Geschäfte mit Not und Elend, Macheath beteiligt Polizeichef Brown prozentual an seinen Raubzügen und kommt dafür ohne Strafe davon. Als er jedoch Peachums Tochter heiratet, droht diese Konstruktion zu zerbrechen. Das Paar lässt ein frisches, fast schon anarchisches Lüftchen im Stadtbezirk wehen. Alle sollen leben und lieben, wie es ihnen gefällt - durchaus natürlich aber auf die Kosten Anderer.
Regisseur Sebastian Schug und sein Team rücken dem Klassiker von Bert Brecht und Kurt Weill ganz gehörig zu Leibe. Gesellschaftskritik mit dem Holzhammer ist Schugs Ding nicht. Die klingt natürlich in den Songs an, ist aber nicht Schwerpunkt: Luftig-champagnerselig also statt bierernst? Tatsächlich entkleidet Schug die Dreigroschenoper jeglicher bleiernen Erdenschwere.
Seine Personenführung ist mehr oder weniger eine perfekt durchkomponierte Choreografie. Alles fließt eigentlich stetig, quecksilbrige Bewegung herrscht, ohne auch nur im Mindesten unruhig oder gar unrund herüberzukommen. Ab und an stockt der Fluss in scharadenhaften, ausdrucksvollen Standbildern.
Jan Freese baut dazu eine Bühne auf der Bühne: ein Bild wie geschaffen für die eine oder andere kleine oder größere Überraschung. Und die Spielenden werfen sich mit großer Lust in das Geschehen, steigern sich beim Sprechen und Singen in aberwitzige Tempi hinein, stellen wahre Geschwindigkeitsrekorde auf. In extremer Exaltiertheit brechen Liebesschwüre und Hasstiraden aus ihnen heraus und kulminieren in einer einzigen wilden Groteske.
Der Song von „Mackie Messer“ hatte wohl bei der Uraufführung 1928 die Funktion, dessen Gefährlichkeit zu betonen. Das hat auch der schlaksige Julius Janosch Schulte auf den ersten Blick nötig, doch entfaltet er im Verlauf des Abends eine geschickte Mischung aus jungenhaftem Zuhältercharme und raubkatzenhafter Geschmeidigkeit. Artur Spannagel ist als Peachum ein Muster an Wolf im bürgerlichen Schafspelz, könnte aber beim Sprechgesang ein Mehr an Rhythmik beweisen. Herrlich Samia Dauenhauer: Ihr Polizeichef Brown erinnert gerade in Galauniform verdächtig an einen französischen Kaiser. Mit allen Wassern gewaschen ist Katharina Brenner als Frau Peachum, absolut cool und abgezockt. Elzemarieke de Vos (Polly) und Rose Lohmann (Lucy) als Mackies Bräute fördern beide kräftezehrende, hysterische Ausbrüche und ein überaus starkes Ego zutage. Auch das übrige Ensemble überzeugt vor allem als Macheaths mehr oder weniger tumbe Räuberbande.
Mit irrem Tempo rasen gemäß Regiekonzept Bettina Ostermeier und ihre Combo durch Weills ewig junge Songs. Dass dadurch manche Details verloren gehen und es an der einen oder anderen Stelle schon mal rumpelt - geschenkt!
Wenn am Schluss ein Sambawagen aus dem brasilianischen Karneval mit Mackie Messer als Galionsfigur auf die Bühne fährt, mag man sich ein letztes Mal verwundert die Augen reiben: Die „Dreigroschenoper“ als Beitrag zur „fünften Jahreszeit“ oder als bunte Silvestershow? Das Konzept geht jedenfalls auf und sorgt in Münster für etwas, das am Theater schmerzlich vermisst wurde: ein gerüttelt‘ Maß an wunderbar verspielter Unkorrektheit!