Übrigens …

Die Burg der Assassinen im Aachen, Theater

Komplexes Gewebe

Die Assassinen? Schlag nach bei Wikipedia. Das ist keine Schande, denn unter diesem Namen war das Volk aus dem Nahen Osten sogar sich selbst unbekannt. Die Assassinen waren Angehörige der schiitisch-islamischen Glaubensgemeinschaft der Nizarten; Menschen aus dem christlichen Europa begegneten ihnen anlässlich der Kreuzzüge im 12. und 13. Jahrhundert. Auch Marco Polo war um diese Zeit – oder wenig später – in der Region unterwegs: Das wird noch eine Rolle spielen im Laufe von Amir Gudarzis Stück, das Florian Fischer jetzt am Theater Aachen uraufgeführt hat. Warum die Christen den Stamm „Assassinen“ nannte, war lange ein etymologisches Rätsel. Heute weiß man: Für die Christen waren die asiatischen Geheimbündler die „Haschischleute“, die „Haschaschinen“. Die lebten unter dem Joch eines oft höchst eigenmächtig agierenden, auf der Burg Masyaf residierenden autokratischen Führers, des „Alten vom Berge", der seine Gefolgsleute erbarmungslos solch enormen Gefahren und Anstrengungen aussetzte, dass man sie nur mit Rauschmitteln, also mit Opium und Hasch gefügig machen konnte. Die christlichen Kreuzfahrer, die in Jerusalem und Umgebung im Namen ihres Gottes ja auch nach Herzenslust mordeten, mochten mit den Assassinen nicht so recht Freundschaft schließen, denn diese galten als noch schlimmere religiöse Fanatiker. Das eigene Überleben im oft heimtückischen Kampf gegen ihre Feinde durfte für die Assassinen keine Rolle spielen – sie waren fundamentalistische Sektierer, ruchlose Mörder und eine Art Vorläufer heutiger Selbstmord-Attentäter - true experts for assassinations eben. In Zeiten politischer Correctness sagt man das nicht ganz so krass: In Amir Gudarzis Die Burg der Assassinen sind sie erstmal nur Angehörige eines Ritterordens.

In Aachen gibt Elke Borkenstein den „Alten vom Berge“, bloß wer das ist, bleibt trotz Torsten Borms Versuch eines historischen Rückblicks irgendwie unklar, wenn man nicht über einschlägiges Spezialwissen verfügt, Wikipedia studiert oder Umberto Ecos Roman „Baudolino“ gelesen hat, in dem die syrische Felsenburg des Alten vom Berge ebenfalls vorkommt. Vieles bleibt rätselhaft in Florian Fischers konzentrierter, aber intellektuell überfordernder Inszenierung. Amir Gudarzi hat ein völlig überladenes Stück geschrieben, das durch das Einziehen zusätzlicher Ebenen in der Aachener Inszenierung nicht durchschaubarer wird. Immerhin: Assoziationen stellen sich ein, in großer Zahl sogar – literarische ebenso wie politische. Man findet Motive von Heiner Müller: Shebab Fatoum (ein „Er“) steht an einem Tor und „traut sich nicht hinein“ – im Rücken die Ruinen von Europa? Aufgaben hätte er zu erfüllen (ein Rätsel zu lösen), dann könnte er durchs Tor schreiten und dem sicheren Tod entgehen: Tatsächlich spielt Gudarzis Stück mehrfach auf den Mythos von Ödipus und der Sphinx an.

Ein anderer Er“ (auch Shebab Fatoum) flüchtet vor dem Krieg nach Europa (wo aber ebenfalls Krieg herrscht) und wird dort zum Pflegehelfer. Flucht- und Schleppergeschichten von heute sowie aus alten Mythen klingen an („mit dem Schiff über das Wasser oder mit dem Pferd über das Land“); ein LKW-Fahrer fährt Flüchtende auf seiner Ladefläche über die Grenzen. Religionskonflikte spielen eine große Rolle. Motive, die man aus Elfriede Jelineks Textflächen-Suaden kennt, tauchen auf: Nola Friedrich gibt einen Berg, der sich gegen seinen Menschen-Befall wehrt, der die lästigen, umweltfeindlichen Seilbahnen und die Skifahrer mit Hilfe von Lawinen und Erdrutschen abzuschütteln versucht – haben da der Jelinek’sche Hass auf Sport und Skifahren sowie ihr Kaprun-„Werk“ Pate gestanden? Ach ja: Raststätte oder sie machen’s alle: Der LKW-Fahrer wird an einem Rastplatz von drei Sexarbeiterinnen erleichtert (zumindest um ein bisschen Cash) und wohl auch unterstützt. An einer solchen Gefahren-Autobahn fällt einem natürlich auch Ferdinand Schmalz und sein dosenfleisch ein, das man mit dieser Episode hübsch weiterdichten könnte. Die drei Autobahn-Hexen tauchen an anderer Stelle als versehrte Alte mit Rollator oder Rollstuhl im Seniorenheim auf, in dem „der andere Er“ sich nach gelungener Flucht ganz klischeehaft als Pflegekraft verdingt. Thorsten Borm wiederum, der LKW-Fahrer, verwandelt sich flugs in Marco Polo und reist mit Entdeckerfreude und im wahrsten Sinne des Wortes missionarischem Eifer durch die Welt. Schon klar: Marco Polo würde heute vermutlich mit einem allradgetriebenen Deutz auf Entdeckungsreise gehen, und die Flüchtigen auf dem LKW-Deck prägen wahrscheinlich im 21. Jahrhundert die Vorurteile mitteleuropäischer Christen und Agnostiker gegenüber den Muslimen wie die Erzählungen des reisenden Venezianers im 13. und 14. Jahrhundert: „Du hast falsche Informationen in die Welt gesetzt über die Assassinen und die Seidenstraße“, bekommt er aus dem Off vorgeworfen.

Man erkennt die Kontinuität von Geschichte und von menschlicher Grausamkeit; man bestaunt die Vernetzung des politischen und privaten Alltags im 21. Jahrhundert mit den alten Mythen – den ältesten sogar, denn auch Gilgamesch hat seinen Auftritt. Flüchtlingsdramen gab es damals wie heute, religiösen Fundamentalismus auch: Mit den Kämpfen gegen die Muslime im 12. Jahrhundert korrespondieren Bombenangriffe auf Minarette. Vielleicht gab es ja schon damals Umweltschäden durch menschliches Wirken. Jedenfalls beschwert sich der Berg nicht nur über die Skifahrer, sondern auch über die Grenzziehungen an seinen Gipfeln und Kämmen, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zu Krieg führen. Angesichts des Slapstick-Humors eines erschreckenden Altenheim-Balletts mit Rollator und Skistöcken bleibt einem das Lachen im Hals stecken.

All das kommt trotz gelegentlicher Auflockerungen durch Videos und Musik ein wenig spröde über die Rampe. Gudarzis Text hat poetische Momente, ist aber vor allem schwierig und sperrig – mit einer apokalyptischen Weltsicht. Die Beschreibung des Endes der Welt finde man im Koran, heißt es einmal. Der Autor und der Regisseur verweben unzählige Motive zu einem komplexen Denkmodell, in dem den Durchblick zu behalten eine große Herausforderung darstellt. Vielleicht wüsste der Alte vom Berge Rat und könnte mit einem Tütchen Haschisch nachhelfen…