Übrigens …

Die Wiedervereinigung der beiden Koreas im Bielefeld, Stadttheater

L'Amour

Zu Beginn dieser Spielzeit gab es im Theater am Alten Markt die Uraufführung einer Bearbeitung des Dramas Fräulein Else von Arthur Schnitzler unter dem Titel else(someone) von Carina Sophie Eberle. Dem zynischen Blick des Protagonisten auf sein jugendliches Opfer im Wien der 1890er Jahre wurde die Solidarität gleichaltriger junger Frauen der Jetztzeit entgegengesetzt. Gewalt gegen Frauen und was man dem entgegensetzen kann/muss – das war dem zu entnehmen.

In der neuesten Produktion des Bielefelder Schauspiels Die Wiedervereinigung der beiden Koreas von Joël Pommerat geht es wiederum um die Frage, wie Männer und Frauen zusammenleben, beziehungsweise nebeneinander oder gar nicht zusammenleben und dennoch nicht auseinandergehen können. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Dramoletten in unterschiedlicher Besetzung. Die Damen und Herren des Ensembles, Fabienne-Deniz Hammer, Nicole Lippold, Ronja Oehler, Carmen Priego, Gesa Schermuly, Oliver Baierl, Georg Böhm, Thomas Wehling, Thomas Wolff, Faris Yüzasio?lu springen in den Kurzdramen in unterschiedliche Rollen, die sie in jeder Situation souverän bewältigen. Ein Lob an die Kostümwerkstätten, die eine wahre Schlacht zu bewältigen hatten. In 14 Szenen beleuchtet der Autor Variationen menschlichen Zusammenlebens, von human mag man nicht in jeder Szene sprechen. Erstaunlich wie schnell Streitlust beziehungsweise Aggression auftaucht.

Es beginnt rasant mit zwei Frauen, die sich lautstark und schnell, verdammt schnell darüber auseinandersetzen wer von beiden die besser Liebende ist. Der Dialog geht zwischen Fassungslosigkeit auf der einen Seite und den Polen Hass und Wahrhaftigkeit auf der anderen Seite hin und her und offenbart eine ungeheure Arroganz der Sprechenden, so dass man sich als Zuschauer fragt, wo da noch ein Funken Liebe vorhanden sein kann. Aber die Alternative Trennung steht der Angreiferin nicht zur Verfügung. Sie besteht nämlich darauf, dass in ihrem Gegenüber etwas enthalten ist, das sich nicht entreißen lässt, auch und schon gar nicht gewaltsam. Erschreckend ist die Absolutheit mit der sie auf ihrem Standpunkt behaart. Das ist im Übrigen ein Aspekt, der in einigen dieser Minidramen eine Rolle spielt.

Da ist z.B. die Hochzeitsszene. Christelle will heiraten. Die Gesellschaft – die ältere Schwester Caroline, die jüngeren Schwestern Marie-Eve, Myriam und Nathalie, Nathalies Mann und der Bräutigam – steht vor dem Trauzimmer. Da bricht Caroline, vom Habitus und Kleidung her als alt zu erkennen, eine Diskussion vom Zaun. Sie hält die Hochzeit für unmöglich und führt dafür Gründe an, die eigentlich den Begriff Diskussion ad absurdum führen. Eigentlich. Aber die Diskussion wird trotzdem geführt. Caroline erweist sich als penetrant hartnäckig, alle Argumente prallen an ihr ab. Weil sie und der Bräutigam sich vor Jahren mal geküsst haben, so ihr Argument gegen die Eheschließung, sei diese Ehe unmöglich, denn sie liebe seither Christian und er sie. Nach allgemeinem Erstaunen über Christians Fauxpas, den er natürlich bestreitet, letzten Endes aber doch zugeben muss, wird die Diskussion hitziger und hitziger. Und es stellt sich heraus, dass der Bräutigam mit allen Schwestern etwas hatte. Und alle hatten sich geschworen, nie auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Was man halt so unter der Familiendecke halten will... Der Aspekt Hartnäckigkeit in der Liebe hat hier zum Scheitern von Ehen und Familie geführt. Das Ganze nebenbei äußerst witzig und schlagfertig und großartig gespielt. Caroline vollführt virtuos einen ungesicherten Balanceakt auf dem Hochseil. Man konnte einerseits Mitleid bekommen mit dem Filou, andererseits überwog dann doch die Schadenfreude.

Ebenfalls ein Hochseilakt ist z.B. in der Szene „Liebe“ zu beobachten. Monsieur und Madame Vedrani sind empört. Ihr Sohn ist vom Ausflug ins Schullandheim verstört zurückgekommen, liegt nur noch im Bett, ist apathisch, hat Alpträume. Monsieur Jobert soll erklären, was da vorgefallen ist. Also: Antoine war ein Mobbing-Opfer, der Lehrer hat ihn aus der Schusslinie genommen, nachdem das Kind im Bett eingenässt hatte, aufgeregt hin und her lief. Er hat also das Kerlchen mitgenommen in sein Zimmer, ihm trockene Sachen angezogen, die Bettwäsche gewechselt und ihn dann in sein Bett gelegt. Die Eltern werden hellhörig. Der Lehrer mit dem Kind, dem Schützling, nachts in einem Zimmer! Jobert hielt es für seine Pflicht – er hat das Wort Pflicht häufig im Mund – das Kind die Nacht in Ruhe verbringen zu lassen. Auf die Frage, wo er denn geschlafen habe, wenn nicht auch im Bett, antwortet er: vor dem Bett. Und dann wird’s gefährlich für ihn. Weil er auf einmal anfängt, von Liebe zu sprechen, vor allem von der Liebe, die er für Antoine empfindet. Dessen Eltern er unterstellt, dass sie ihr Kind nicht lieben und dass er gewissermaßen der Ersatzliebende für das Kind sei. Er sehe es als seine Pflicht (sic!) an, Kinder zu lieben. Deswegen habe er diesen Beruf gewählt. Er echauffiert sich ziemlich stark, merkt aber nicht mehr, wie er die Kurve kriegen kann, um den Verdacht der falschen Liebe für die ihm anvertrauten Schüler abzuwenden. Wie weit also darf/kann/muss die Liebe eines Lehrers für seinen Beruf gehen? War er in diesem Fall übergriffig? Das bleibt offen. Hinreißend, wie Monsieur Jobert sich die Fallstricke selber legt und mit offenem Visier ins Unglück marschiert.

Die Analyse dieser Szenen könnte suggerieren, dass es knochentrocken zuginge in diesen Minidramen. Nein. Absolut nicht. Die Stärke der französischen Gegenwartsdramatik – geschliffene, geist- und witzvolle Dialoge – zeigt auch Joël Pommerat, wobei man dann aber auch die Übersetzung (Isabelle Rivoal) loben muss, die den Genuss erst möglich macht. Selbstverständlich wird auch der ironisch gemeinte Titel des Stücks aufgelöst.

Zum Genuss beigetragen hat natürlich auch der Regisseur Michael Heicks, der hier seit nunmehr 23 Jahren erfolgreich arbeitet. Und diesen Abend mit einem spielfreudigen Ensemble zu einem Erlebnis macht. Der kräftige und langanhaltende Beifall war verdient.