Den Alphawomen fehlt Vertrauen
Man kommt ins Nachdenken: Es ist ja gerade en vogue, Begriffe in Frage zu stellen, die gemäß der feministischen Sprachkritik von der Macht des Patriarchats zeugen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Begriff „Alphatier“ geschlechtsneutral und die männliche Form sogar nur im spöttischen Diminutiv gebräuchlich ist: Alphamännchen scheinen rein semantisch den Alpha Women unterlegen. Zahlreich sind die Beispiele von weiblichen Alphatieren, in der Geschichte ebenso wie in den alten Mythen, obwohl zugegebenermaßen die Alphamänner auch dort in der Mehrzahl sind. Aber man denke an … Kassandra vielleicht, auch wenn ihr niemand zuhörte, an Klytämnestra, an Penthesilea. An Iokaste, die sich gegenüber ihrem Gatten und Sohn im Hintergrund hielt, aber doch die eigentliche Souveränin und einflussreiche Steuerfrau am Ruder von Staat und Familie war. Und was ist mit Nofretete oder Katharina der Großen? – Wenn zwei Alphafrauen aufeinandertreffen, dann knallt’s. Siehe Maria Stuart und Elisabeth Tudor – man schlage nach bei Schiller. Jessica Weisskirchen fragt sich am Schauspiel Dortmund, ob es nicht auch anders hätte kommen können zwischen den beiden feindlichen Königinnen.
Schicksalhaft aneinandergekettet zwängen sich Maria und Elisabeth in einer gemeinsamen Fruchtblase aus einer überdimensionalen Vulva, die das Bühnenbild im Studio des Dortmunder Schauspiel dominiert. Durch eine gigantisch lange rote Nabelschnur bleiben sie miteinander verbunden – zwei zärtliche Kusinen, die zueinander nicht finden wollen, werden hier wie Zwillinge aus einem Leib geboren. Die eine ist – zumindest bei Schiller - lebenslustig, freizügig und katholisch, die andere freudlos, streng und protestantisch. Und was haben beide für ein mächtiges Ego! - Die Dortmunder Vulva ist integriert in eine Art dicken roten Baumstamm, der auch den Baum des Lebens versinnbildlichen könnte – mit einer Rinde wie Blutbahnen. Weit schwingt der weibliche Unterleib, schwingen die blutigen Organe und Arterien, schwingen die Äste des Baumes in den Bühnenraum hinein. Lebenssaft spendende Nabelschnur und Baum des Lebens? Baum der Erkenntnis? Bühnen-Installation, Kostüme, Requisiten – hier ist alles blutrot. Optisch verheißt das nichts Gutes.
Linda Elsner gibt Elisabeth – die Virgin Queen. Neues Leben zu spenden, ist nicht ihr Ansinnen. Geradezu fanatisch besteht sie darauf, ihre Tugend für ihr Volk bewahren zu müssen. Der – vielleicht ungerechte – Lauf der Welt für die Frauen („Jungfrauen am Anfang. Mütter am Ende. Königinnen“) soll für sie nicht gelten; die schlanke Königin versucht sich in Askese – und leidet doch an ihrer Enthaltsamkeit. Das Volk allein befriedigt keine Lüste: In ihren Begegnungen mit den speichelleckerischen französischen Botschaftern, die für eine Vermählung mit dem Prinzen von Frankreich werben, mehr aber noch mit Dudley, dem sie liebenden Grafen von Leicester, lässt Elsner die unterdrückte Sehnsucht der Königin nach Körperlichkeit spüren, nach körperlicher und wohl auch emotionaler Liebe. Maria dagegen, der feuchte Männertraum, ist in Dortmund ganz gegen die Aufführungstradition besetzt: Marlena Keil gibt die Schottin als die rustikalere der beiden Königinnen, mit durchdringender, oft ins Keifende sich wendender Stimme. Sie zeigt die Frau, die mitleidlos die Ermordung ihres Gatten zuließ, des Geschöpfes, das sie selbst geschaffen zu haben glaubt, die Frau, die mindestens ebenso wie Elisabeth in Machtphantasien verstrickt ist.
Und nicht nur das: „Zwei Königinnen, gefangen in einer Sackgasse vor der Höllenpforte“, diagnostiziert Elisabeth anlässlich des einzigen Treffens der beiden. Sie sind gefangen in ihren festgelegten Rollenmustern – als Frauen, als Königinnen, als Politikerinnen und Vertreterinnen ihrer jeweiligen Religion. Doch plötzlich leuchtet der Gedanke an Kohabitation auf, vielleicht gar an eine gemeinsame Führung des Reichs. Nach wie vor aneinandergekettet durch die lange blutige Nabelschnur, nähern sich die beiden Königinnen einander an, laufen einander nach und wieder voreinander weg, dem Gedanken an Kooperation nachsinnend, aber doch extrem misstrauisch. Mary ist allzu statusbewusst, Elisabeth allzu verklemmt und fanatisch – das Experiment einer gemeinsamen Herrschaft scheitert, bevor es begonnen wurde, und es sind nicht nur gesellschaftliche Erwartungen, sondern vor allem gegenseitige Vorwürfe und Machtansprüche, die die Utopie von Frieden zunichtemachen. Elisabeths Zweifel, ihre moralischen Grundsätze bilden einen kleinen Schwerpunkt in Weisskirchens Inszenierung, aber letztlich ist es dann doch vor allem Vertrauen, das fehlt. Schon in der kleinen, ausdrucksvollen Szene „in der Vorhölle“, die dem Treffen Marias und Elisabeths vorausgegangen war, war es darum gegangen. Mortimer und Dudley (in der gesehenen Aufführung der für Viet Anh Alexander Tran eingesprungene, vor allem mimisch herausragende Lukas Beeler und Ekkehard Freye), beide in geheimer Mission und beide nicht ohne Intrigantentum unterwegs, treffen überraschend aufeinander und fragen sich, wieweit sie einander die Wahrheit sagen, wieweit sie einander vertrauen können. Ein gefährliches Spiel - da flackern die roten Blutbahnen, die Bühnenbild und Kostüme durchziehen, und signalisieren höllischen Alarm.
Diese Blutbahnen durchziehen auch die Kostüme der sechs Frauen des Dortmunder Sprechchors, die als „Chor der Toten Königinnen*“ lemurenhaft über die Bühne ziehen und die Zuschauer dort abholen, wo Jessica Weisskirchen es bei ihrer ersten Inszenierung für das Dortmunder Schauspiel, ihrem grandiosen Woyzeck, zurückgelassen hat: „Der Mensch – Staub, Sand, Dreck“ flüstern sie mit Büchner und verorten Weisskirchens Spiel um Paradies und Hölle des Königinnentums in der Schöpfungsgeschichte, bei der Erschaffung der Frau aus der Rippe des Mannes. Seit Beginn der Schöpfung geht es um Macht – bei Tieren und Alphatieren, bei Männern und Frauen. Zumindest bei den Menschen geht es auch um Rache. Macht und Rache: Daraus schafft der Sprechchor intensive Momente und rückt das Drama bei aller Modernität der Inszenierung nah an die griechische Tragödie. Wie bei den alten Griechen verkörpert der Sprechchor das Volk. Aber das ist bei Queens selten ausgleichend und beratend tätig – meist wiegelt es auf. Und so träumen beide Königinnen vergebens davon, den Kreislauf aus Blut und Mord zu brechen. Am Ende steht ein Todeskuss verfeindeter Verwandter. Der Todeskuss, der sie dorthin bringt, wo die erste Szene des Abends begonnen hatte: ins Reich des Todes, in ein merkwürdiges „Paradies“, in dem Untergang und Vernichtung drohen. Ganz zart ist die Hoffnung, mit der der Text endet: „…irgendwann, ganz leise, vorsichtig, aus dem Nichts … entspringen unendliche Möglichkeiten.“