Übrigens …

Der Prozess im Köln, Schauspiel

Eine trübsinnige Weltordnung

Zwanzig Minuten lang besiegt die Phantasie des Videos die unerbittliche Bürokratie der kafkaesken Welt – auch wenn die Verhaftung von Josef K. nicht aufzuhalten ist. Die Bürowelt ist so wie wir sie kennen, bloß ein bisschen bunter: Da stehen PC und Drucker, Kaffeetasse und natürlich die unvermeidlichen Stempel. Im nächsten Bild liegt Josef K. im Bett. Die Wächter treten auf, die ihn festnehmen. Wer ist überhaupt dieser Josef K.?

Bankangestellter, Prokurist sogar – also kein ganz kleines Licht: Das wissen wir aus dem Roman, und irgendwann wird K.s Beruf in Pinar Karabuluts Inszenierung am Schauspiel Köln auch beiläufig erwähnt. Der Roman-K. wirkt widersprüchlich. Er ist mal übermäßig angepasst, mal überheblich, mal kämpferisch, mal resigniert. Trotz gelegentlicher Gefühlsausbrüche und Übergriffigkeiten des K. bleibt beim Leser das Bild eines introvertierten, fast ein wenig identitätsarmen Mannes. Bei Karabulut steigert sich die Identitätsarmut zur Identitätsverwirrung. Bekim Lafiti und Alexander Angeletta sind kaum voneinander zu unterscheiden, treten aber im Doppelpack auf – K.u.K. sozusagen, bloß poppiger. Wir blicken auf Susanne Steinmassls Videoscreen – und sehen die beiden K.s mal aus der frontalen Kamera-Perspektive, mal schräg von der Seite, mal senkrecht von der Decke des fiktiven Raums herab. Ihre Abbilder tauchen auf und verschwinden wieder, werden ein- und wieder ausgeblendet. Jemand muss Josef K. einen Streich gespielt haben. Die Story rollt ab wie in Kafkas Roman: K. wird verhaftet, darf aber weiterhin seiner regulären Arbeit nachgehen. K. erkennt früh das Groteske seiner Situation. Schnell setzt in Karabuluts Inszenierung das surreale Moment ein: durch Steinmassls Videotricks, durch kaum merkliche Realitätsverschiebungen. (So findet die zu Hilfe gerufene Yvon Jansen ihr Telefon im Backofen.) Atmosphärisch, wie gesagt, besiegt die Phantasie der Aufführung das Enge-Gefühl und das Gefühl des Ausgeliefert-Seins, welches die Wächter und mit ihnen die nicht fassbare anonyme, aber erdrückende Präsenz der Gerichtsbarkeit auslösen.

Nach zwanzig Minuten öffnet sich der Vorhang zum Theaterspiel, und ups, da stehen nun gleich sechs Schauspielerinnen und Schauspieler in roten Hosen und roten Oberteilen auf der Bühne - sechs K.s, die (mit Ausnahme von Angeletta und Latifi) auch zahlreiche andere Rollen spielen. Ein K. wandert einmal als eine Art hologrammartiger Geist durch ein Wandgemälde; der echte Bekim Lafiti aus Fleisch und Blut hängt als hilflose Marionette an den Fingern einer überdimensionalen, sich langsam, geräuschlos, aber übermächtig bewegenden Greifhand. Nicht immer findet die vor allem visuell sehr phantasievolle Inszenierung Bilder, die dem Geist Kafkas so perfekt entsprechen: Lafiti erklärt in einem turbulent vorgetragenen Monolog die Funktionsweise des Gerichts. Mit artistischen Bewegungen wirft er sich immer wieder gegen eine giftgrün ausgeleuchtete Wand, er klettert an ihr hinauf, rennt, kämpft und steht doch auf verlorenem Posten. Die langen Arme der Gerichtsbarkeit aber haben Zeit. Machtvoll schweben sie über dem Delinquenten, der sich anzupassen versucht, und greifen ihn einfach ab. Über einer Mauer blicken auch einmal Ungeheuer auf die Szenerie herab; unheimlich wirkende Echsen aus der Dinosaurier-Zeit schaffen eine surrealistische Bedrohung; Rauch steigt aus dem blinden Fenster einer Wand gen Himmel. Mädchen krauchen auf dem Boden und entpuppen sich alsbald als Hunde.

Es sind solche Bilder, die immer wieder für Karabuluts Inszenierung einnehmen. Poppig bunte, klare Bildstrukturen, streng choreografierte Auftritte, die die Grenze zum Ausdrucktanz streifen, und der unaufdringliche, bedrohliche Soundtrack schaffen eine dichtere Atmosphäre als sogar Kafkas Sprache. Der Handlung zu folgen, dürfte für Nicht-Kenner des Romans allerdings nicht einfach sein: Hatte schon Kafka sein unvollendet gebliebenes Werk nicht in chronologischer Reihenfolge geschrieben, so hat Pinar Karabulut die bekannte, von Kafkas Herausgeber und literarischem Nachlassverwalter Max Brod in eine sinnvolle Szenenfolge gebrachte Anordnung noch einmal umgestellt. Manche Szenen – vor allem die des Kaufmanns Block – werden mehrfach angespielt und abgebrochen mit der Bemerkung: „Diese Szene blieb unvollendet.“ Eine feste Rollenzuweisung gibt es kaum. Kafka gibt Rätsel auf. Seine peniblen Büromenschen sind verloren in einer surrealen Welt, die nicht dechiffrierbar ist. Interpretationen gibt es bei Kafka nicht, und Karabulut kann und will da nicht weiterhelfen. Wer mag, kann sich eigene Schwerpunkte suchen. Wenn K. unschuldig sei, benötige er keine Hilfe, sagt Sabine Weibel als Gerichtsmaler Titorelli. Aber: „Ich weiß von keinem wirklichen Freispruch, aber von vielen Beeinflussungen." Und: „Es gibt vor Gericht kein Vergessen." Das spricht für die Interpretation von der übermächtigen Bürokratie, ja, gar von einer gewissen staatlichen Willkür wie sie in den Jahren 1914/15, als der Autor an seinem Manuskript zu arbeiten begann, tatsächlich geherrscht haben mag. Gedoppelt, verdreifacht, versechsfacht kämpft K. gegen Willkür und Bürokratie an – es hilft nichts: Der einzelne geht unter in der Masse, hat keine Chance auf Individualität.

Die Überforderung und die Sinnsuche in einer solchen Welt, die der gewöhnliche Mensch nicht mehr versteht, zerreißt und verunsichert ihn: Mal ergibt sich K. scheinbar willenlos, mal bäumt er sich auf, mal krümmt er sich auf dem Boden, mal klettert er Steilwände hoch - selten verzweifelt, aber mehr und mehr zweifelnd. Hat er doch irgendwann einmal Schuld auf sich geladen? Sein Urteil mit anschließender Hinrichtung nimmt K. überraschend ruhig auf. Erst ganz am Ende spricht Lola Klamroth die berühmte Türhüter-Parabel. Wer wird eigentlich getäuscht in dieser Geschichte, fragt sie - der Mann, der ein Leben lang vergeblich vor dem Tor des Gesetzes wartet und im Augenblick des Todes erfährt, dass es nur für ihn bestimmt war? Oder der Türhüter, der das Innere des Gerichts nicht kennt und es fürchtet als die große, mächtige Unbekannte? Der Mann wartet sein Leben lang freiwillig, der Türhüter ist vom Gesetz, von der Ordnungsmacht zum Dienst als Wächter verpflichtet. „Was er sagt, muss man nicht für wahr halten. Man muss es nur für notwendig halten."
Es ist eine trübsinnige Weltordnung", erkennt K.. „Die Lüge wird zur Notwendigkeit gemacht." Irgendwie sind wir da doch wieder ganz nah am Heute.