Das Spiel mit der Künstlichen Intelligenz
Frau Ada denkt Unerhörtes? Unerhört, dass eine Frau denkt! Wir schreiben die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, denkende Frauen sind suspekt, Frauen mit mathematischem und technischem Interesse erst recht. Im Rheinischen Landestheater Neuss schauen wir hinein in die Welt von Ada Lovelace, der Tochter von Lord Byron, dem legendären Schriftsteller der englischen Romantik. Der ist nicht nur in der romantischen Literatur unterwegs, sondern auch in allerlei romantischen Affären, so dass seine Frau Isabella die gemeinsame Tochter schnell seinem Zugriff entzieht und sie anstelle der Dichtkunst lieber der Mathematik zuzuführen versucht. Was besser gelingt als geplant: Ada träumt von der „Fliegologie“, von einem „Pferd mit einer Dampfmaschine innendrin“, das durch die Lüfte galoppieren kann, und sie entwickelt technische Zeichnungen dazu. Ada arbeitet mit dem Mathematiker und Erfinder Charles Babbage zusammen; sie entwickelt eine Art Computer-Programm zur Berechnung der Bernoulli’schen Zahlen und verfasst einen Algorithmus, „damit die Maschine weiß, was sie zu tun hat.“ Ihre Maschine ist nicht nur der Vorläufer des Computers, sondern auch der Vorläufer der Künstlichen Intelligenz. Doch eine Frau, die denkt - das ist Anfang des 19. Jahrhunderts unerhört. Die Gesellschaft und ihre gestrenge Mutter verhindern Adas Durchbruch und ihre Anerkennung als Wissenschaftlerin; eine frühe, möglicherweise ein wenig widerwillig eingegangene Ehe und ein kränkliches Wesen tun ihr Übriges, um die vollständige Entwicklung von Adas intellektuellen Kapazitäten und ihren Ruhm zumindest zu ihren Lebzeiten einzubremsen. Ada stirbt im Alter von 37 Jahren, nicht ohne erkannt zu haben: „Der Mensch ist eine Fehlkonstruktion.“
In Thomas Goritzkis Inszenierung von Martina Clavadetschers Stück Frau Ada denkt Unerhörtes wird diese Geschichte in einem quasi realistischen Bühnenbild einer Wohnstube der damaligen Zeit erzählt und meist komödiantisch überzeichnet. Antonia Schirrmeister als böse, gouvernantenhafte, aber auf ihre Weise auch perfektionistischen Mutter bleibt gewollt eindimensional in ihrer strengen Zickigkeit; Anton Löwe und Simon Rußig als von Ada höchst selbst entwickelte mechanische Puppen wirken reichlich albern. Einzig Juliane Pempelfort in der Rolle der armen, klugen, mal aufmüpfigen, mal weinerlichen Ada kann überzeugen. Und doch schmeckt der Weißwein in der Pause nach mehr. Denn man hat ja schon läuten gehört: Da kommt noch was, und das wird ganz anders.
Schneeweiß (nein: „milchweiß“, wie dieser Teil betitelt ist) ist der aseptische, klinisch reine Raum, in dem der zweite Teil des Abends spielt. In einem Forschungslabor im 21. Jahrhundert arbeiten drei Forscher am Thema der Künstlichen Intelligenz. Die „Idee aus der Schublade, die dazu bestimmt ist, Wirklichkeit zu werden“, wie es aus dem Off erklingt, steht schon auf der Bühne; man sieht einen Kopf, und zwar den völlig veränderten, nun kurzhaarigen von Juliane Pempelfort. „Ich heiße Ada“, stellt sich die Homuncula vor, die Keller, Baumgartner und Holzhäuser entwickelt haben. Nun spielen Baumgartner und Holzhäuser (Löwe und Rußig, die zuvor als Adas Puppen aufgetreten waren) mit ihrer selbst entwickelten Konstruktion wie mit einer Puppe, doch Adas Denken war schon im ersten Teil auf eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten ausgerichtet: Das Konstrukt verselbständigt sich und vermag sich aus eigener Kraft zu optimieren. Auch den unvollkommenen Menschen (diese Fehlkonstruktion!) beabsichtigt die neue Ada zu verändern: seine Fähigkeiten, sein Weltbild und sein „Konzept von Gott“. Sogar zum Sex ist das Wesen fähig – ohne eigene Emotionen, versteht sich, aber mit analytischer Schärfe die Reaktionen und Emotionen der Sexpartner sezierend.
Durch das Besetzungskonzept gelingt es Thomas Goritzki, zwischen den beiden scheinbar nur lose verbundenen Stückteilen eine Brücke zu schlagen. Der schwächere erste Teil wird im zweiten rehabilitiert. Die beiden ehemaligen Darsteller der Puppen bleiben auch als Forscher relativ albern; vor allem handeln sie verantwortungslos. Antonia Schirrmeister gibt nun die Leiterin der Forschergruppe: Frau Keller hört auf den gleichen Vornamen wie zuvor Adas Mutter. Und erneut ist es Isabelle, die bremst – aber diesmal nicht aus einem reaktionären, antifeministischem Rollenverständnis heraus, sondern weil sie als erste die Gefahren der außer Kontrolle geratenen Entwicklung erkennt. Während Schirrmeisters Figur im ersten Teil den Fortschritt gnadenlos ausbremst, kommt ihr Tritt auf die Bremse im zweiten Teil zu spät. Mitleidlos konstatiert die Künstliche Ada: „Es ist eure Empathie, die euch schwächt.“ Weil sie den Fortschritt bremst. Kampfbomber donnern über die Szenerie. Bald wird um die KI ein erbarmungsloser Krieg geführt werden. Ob der noch mit konventionellen Mitteln ausgetragen wird, ist allerdings fraglich.
Die Hospitantin Frieda Küppers verkörpert als stummer "mask player" die einzige Figur, die in beiden Teilen unverändert bleibt (und die dem Stück von der Regie hinzugefügt wurde). Mit einem schwarzen und einem weißen Schuh, einer schwarz und einer weiß geschminkten Gesichtshälfte kreuzt sie ab und zu die Bühne, öffnet und schließt Türen und versinnbildlicht Fluch und Segen der Forschung. Ada weiß: Wenn die KI das Ruder übernimmt, ist das nichts anderes als - Evolution. Wie das Spiel mit der KI ausgeht, werden unsere Kinder erleben - oder ausbaden müssen.