Eine Parabel für ein unmögliches Frauenleben
Eine schwarze Bühne, mitten drauf ein flachgezogenes Dreieck, vielleicht ein Hausgiebel. Links ein E-Gitarrenspieler (Malcolm Kemp), der den Abend untermalen wird.
Das Saallicht geht aus, auf der Bühne scharen sich neun Personen LA-LA-LA singend um den Gitarristen, die meisten schwarz gekleidet, die Frauen in bodenlangen, altmodischen Gewändern. Dann formieren sie einen Block in der Bühnenmitte und mit chorischgleichen Gesten begleiten sie die Texte einzelner Sprecherinnen, die sich direkt ans Publikum wenden, sich als MODESTA vorstellen, die uns nun aus ihrem Leben berichten wird. Es sind gleich drei Modestas, man kann sie unterschiedlichen Lebenszeiten zuordnen, doch sprechen sie zunächst alle im Wechsel und versichern: „Ich will euch alles so erzählen, wie es gewesen ist, ohne etwas zu verändern.“ Und in der Tat bleibt es im ersten Teil der Aufführung vorwiegend „Erzähltheater“, das sich direkt ans Publikum wendet, selbst bei Dialogen auf der Bühne. Herzzerreißende Szenen – wie der väterliche Missbrauch - kommen so relativ erträglich daher.
Mehr und mehr übernimmt dabei Marlina Adeodata Mitterhofer den Part der jungen Protagonistin, erscheint als strahlende Schönheit im leuchtendroten Satinkleid und schafft es, vom armen Bauernmädchen in der Holzhütte zur Fürstin im Palast aufzusteigen. Von ihrer Liebesfähigkeit und ihrem Aufstiegswillen, der sie allerdings vier Morde kostet, wird unterhaltsam berichtet. Von der in Flammen gesetzten Holzhütte, in der Mutter und Schwester eingesperrt verbrennen, gibt es kein Bild; wohl aber wird der Sturz der Äbtissin über das angesägte Geländer vom Klosterdach im Hintergrund szenisch angedeutet. Und dass der barschen Fürstin, deren Platz Modesta einnehmen will, nur das lebenserhaltene Medikament verweigert werden muss, wird nur gestreift. Den geistesgestörten Familienerben hat sie schon rechtzeitig geehelicht. Die drei politischen Morde im zweiten Teil gibt sie dann in Auftrag. Da geht es nicht mehr um ihren Aufstieg, auch nicht wirklich um politisches Engagement, sondern um Rache für den Tod des jungen Geliebten – eines der vielen, in ihrem lustbetonten Leben.
Nach der Pause spielt das Ganze in einer Villa am Meer in Catania, Modesta ist in den Dreißigern (1900 geboren). Ein grandioser Einfall der Bühnengestaltung (Bühnenmeister Guiseppe Barletta) lässt ein lose fallendes weißes Tuch aus dem Bühnenhimmel quer über die Bühne wallen und blau angestrahlt, Meer und Himmel zugleich darstellen. Die Liebenden tummeln sich in modernen Badeanzügen darauf. Das Spiel wird dialogischer, Modesta streitet mit dem Geliebten um den Begriff der Liebe, die für sie Handwerk, für ihn Geheimnis bedeutet. Man singt: „Volare, oh, oh, cantare, oh, oh…“. Das Publikum stimmt nicht ein, lacht aber im fröhlichen Wiedererkennen.
Dann wird es mehr und mehr politisch und ernsthaft: Modesta, jetzt wenig strahlend vorwiegend von Luisa Berndt gegeben, sympathisiert mit den Sozialisten. Es gibt neue Liebschaften, egal ob Mann oder Frau, rote Herzen flattern herab. Vieles wird noch untergebracht in den folgenden Szenen: Der Krieg - Modesta kommt in deutsche Gefangenschaft - der Faschismus, aber auch Freuds Psychoanalyse und sexuelle Orientierungen.
Am Ende ist Modesta in den Fünfzigern, Bettina Scheuritzel gibt sie in dieser Phase so gar nicht lebensvoll. (Da war sie weit besser aufgehoben in der Rolle der fuchtigen Fürstin Gala). Ein neuer Geliebter ist da und die Lebenserkenntnis, „ dass der Tod vielleicht nichts anderes ist als ein mit allen Sinnen ausgekosteter Orgasmus“. Nach 735 Seiten enden das Buch und nach 3 Stunden das narrative Bühnenstück mit der Aufforderung an die „Heldin“: „Erzähle, Modesta, erzähle“.
Die Buchautorin Goliarda Sapienza war vierundzwanzig Jahre jünger als ihre Protagonistin, dennoch entdecken Kenner autobiographische Elemente in ihrem Roman, die auch auf der Bühne erscheinen. So kam auch sie aus einem sozialistisch-anarchistischen Umfeld im Süden Italiens und verbrachte selbst kurze Zeit im Knast – allerdings wegen Diebstahls, nicht politisch motiviert. Sie schrieb den opulenten Roman in den 1970er Jahren, fand aber 1976 keinen Verlag, der bereit war, ihn zu drucken. 2005 erschien er in Deutschland unter dem Titel In den Himmel stürzen mit wenig Erfolg, um dann erst mit der Neuauflage 2022 unter dem jetzigen Titel Anerkennung zu finden.
Sapienzas Modesta – die Bescheidene – ist zweifellos eine Unbescheidene. Mit ihren Tabubrüchen und Gewalttaten mag sie als Parabel gelten für den Kampf um die Lust am Leben, ein reales, etwa feministisches Vorbild bietet sie nicht mit ihrer Bußmoral: „Wer stirbt hat unrecht, wer lebt hat Recht“.