Jeder Mensch ist ein Abgrund
Büchners Fragment Woyzeck enthält vor allem Kreaturen, die in einer trostlosen Welt ihr Leben behaupten. Woyzeck selbst ist ein simpler Regimentssoldat, der mit seiner Freundin Marie ein uneheliches Kind hat. Mit seinem spärlichen Sold kann er die kleine Familie nicht ernähren und muss so auf einem anderen Weg an Geld kommen. Er kümmert sich nicht nur um seinen Hauptmann, sondern nimmt an zweifelhaften Experimenten eines Arztes teil, der mit seiner Theorie die gesamte Wissenschaft revolutionieren will. Halluzinationen sind die Folgen einer Mangeldiät, die der Doktor Woyzeck verordnet hat. So sieht er Marie mit dem Tambourmajor zusammen und ersticht sie, gequält von Eifersucht und Stimmen in seinem Kopf.
Hintergrund von Büchners Woyzeck (1836) ist ein zeitgenössischer Kriminalfall. Am 2.Juni 1821 erstach der entlassene Soldat, Gelegenheitsarbeiter und Perückenmacher Johann Woyzeck seine zeitweilige Geliebte, die Witwe Christiane Woost. Als Tatmotiv galt Eifersucht. Das Leipziger Gericht verurteilte ihn zum Tode, am 27. August 1824 wurde er öffentlich hingerichtet.
Die aktuelle Düsseldorfer Woyzeck-Fassung beruht auf 31 Einzelszenen, der Autor hat sie nicht nummeriert. Eine bestimmte Reihenfolge ist daher nicht vorgegeben. Regisseurin Luise Voigt hat bei ihrer Büchner-Inszenierung neue Wege beschritten. Zusammen mit der Choreographin Minako Seki hat sie einen umfassenderen Zugang zu dem Text gefunden, da sie der Meinung ist, dass Sprache allein eine Einschränkung sei. Die Welt hinter dem Text versucht sie, mit Tanztheater und Videoprojektionen weiter auszuloten. Ein ungewöhnlicher Ansatz, der aber durchaus neue Perspektiven eröffnet. So kommen zu Beginn die Schauspieler tanzend auf die Bühne und wiegen sich synchron im Takt. Ein großer sich drehender Kubus steht in der Mitte der Drehbühne. Er dient zum einen als Projektionsfläche – u.a. sieht man in die Wohnstube von Woyzeck und Marie, ein kleinkariertes Präkariatsidyll, in dem die Großmutter, Marie und ihre Tochter am Tisch Karten spielen - , zum anderen bietet er, wenn er hochgefahren wird, einen Blick in die Unterwelt. Hier tanzt fast wie ein Derwisch der skrupellose Doktor (hervorragend in seiner vielfältigen Darstellung, aber auch in seiner fast akrobatischen Körperbeherrschung: Yascha Finn Nolting), der Woyzeck nur als interessantes Versuchsobjekt sieht. Woyzeck selbst: Das ist ein großartiger Sebastian Tessenow, der sich physisch und psychisch in seiner Rolle verausgabt. Glaubhaft die Wandlung vom liebevollen Menschen, der dann immer mehr dem Virus Eifersucht verfällt und letztlich seine Marie tötet. Cathleen Baumann gibt Marie eher zurückhaltend, die sich nicht auf Woyzecks Ängste einlässt. Manuela Alphons (Großmutter) und Caroline Cousin (Maries Tochter) sind – ebenso wie Marie – in weiße, weite Kleider gehüllt. Man sieht sie mehr als Projektion als auf der Bühne agierend. Thiemo Schwarz glänzt in einigen Szenen als Hauptmann ebenso wie Florian Lange als Tambourmajor. Irisierender Mittelpunkt: Tessenow.
Irritierend ist der fast immer vorhandene Klangteppich, der zusätzlich die Wirkung des Schauspiels betont – so den immer mehr zunehmenden Stress des Woyzeck -, aber auch oft nur als Lärm empfunden wird.
Zweifellos ein aufwühlender Abend, der vom Publikum heftig beklatscht wurde. Aber auch einzelne Buhrufe waren zu hören. Ein geteiltes Echo, was die Inszenierung betrifft, ungeteilt der verdiente Applaus für das sehr gute Ensemble.