Von der Doku-Fiction zum Psycho-Drama
Es waren aufregende Zeiten damals, 1974, als der Roman erschien. Der Staat geriet unter Beschuss: Das System, auf dem unsere Demokratie, unsere Freiheit und unser Wohlstand beruhen, wurde angegriffen - von links, nicht von rechts wie heute, von einer Terrorgruppe, die mit Waffengewalt vorging und keinerlei Respekt vor Menschenleben hatte. Es war eine kleine Splittergruppe, aber sie erwies sich als hochkriminell und gefährlich. Unter linken Aktivisten gab es eine erstaunlich große Anzahl von Menschen, die nicht nur mit den Zielen dieser Gruppe, sondern auch mit ihren Mitgliedern sympathisierten. Sie denunzierten den Staat, der seine Bürger zu schützen versuchte, als Polizeistaat – und der Staat und die öffentliche Meinung denunzierten zurück: Schnell war man mit dem Verdacht bei der Hand, da unterstütze ein eher harmloser linker Revoluzzer auch die kriminellen Aktivitäten der RAF. Heinrich Böll schrieb Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Dass ihm sein Roman als Sympathiekundgebung für die Terrorgruppe ausgelegt wurde, erschien in der aufgeheizten Atmosphäre fast unvermeidlich. Die ein Jahr später erschienene Verfilmung von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta verstärkte diesen Effekt noch. Bölls Roman war Tendenzliteratur (eine Freundin und Böll-Verehrerin korrigiert den Schreiber dieser Zeilen schnell und besteht auf der eleganteren Bezeichnung „littérature engagée“). Böll selbst bezeichnete seinen Roman als „politisches Pamphlet“, aber er war keineswegs ein Sympathisant des RAF-Terrors.
Eine schüchterne, in einer Zeit sexueller Freizügigkeit eher konservative junge Frau lernt auf einer Karnevalsfeier einen jungen Mann kennen und nimmt ihn mit nach Hause – nicht ahnend, dass der Mann unter polizeilicher Beobachtung steht. Er ist des Bankraubs verdächtig; und wohl weil die RAF u. a. mit Banküberfällen ihre Aktivitäten finanziert, steht er – fälschlich, wie sich herausstellen wird - auch unter dem Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Am Morgen bricht die Polizei mit schwerem Geschütz in Katharinas Wohnung ein, und da der Gefährte ihrer Nacht mit Katharinas Hilfe entkommen ist, gerät die junge Frau höchstselbst unter Verdacht und wird in harten Verhören brutal unter Druck gesetzt. Findet bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft bereits eine Vorverurteilung statt, so ist die mit Detail-Informationen versorgte Boulevard-Presse noch erbarmungsloser: Die Zeitung mit den großen Lettern orchestriert eine Hass- und Hetzkampagne gegen das „Terroristen-Liebchen“ und zeichnet ein Zerrbild der jungen Frau, das zu öffentlichen Angriffen und Belästigungen – auch sexueller Art – führt. Katharina verabredet sich mit dem verantwortlichen Journalisten der Zeitung – und erschießt ihn.
Die Wahl des Sujets und die Behandlung der Thematik führte dazu, dass Böll eine Nähe zur sich als bewaffneter Arm der außerparlamentarischen Opposition aufspielenden Terrorgruppe unterstellt wurde. Zentrales Anliegen des Schriftstellers aber war es, neben den Ermittlungs- und Verhörmethoden einer voreingenommenen Polizei das Vorgehen der Medien anzuprangern. Dabei war vor allem die Springer-Presse gemeint, und dort insbesondere die Zeitung, die suggeriert, sich mit ihrer Hilfe eine Meinung bilden zu können.
Die Missverständnisse, denen Böll sich ausgesetzt sah, vermeidet Bastian Krafts Inszenierung des Romans, die jetzt am Schauspiel Köln zur Premiere kam. Die beiden Schwerpunkte von Bölls Gesellschaftskritik werden deutlich - sogar die Gewichtung stimmt: Die Ermittler sind fies und verantwortungslos, die Presse denunziert mit geradezu kriminellen Unterstellungen und Tatsachenverdrehungen. Kraft macht noch einen weiteren Aspekt deutlich, den man in den 1970er Jahren, dem Zeitgeist entsprechend, weniger diskutiert hat, obwohl ihn Angela Winkler in Schlöndorffs Verfilmung längst mitgespielt und man ihn als Betrachter des Films oder Leser des Romans klar wahrgenommen hat: Es ist das patriarchale, geradezu frauenverachtende Weltbild der ausschließlich männlichen Ermittler und der Presse. Schnell wird der One-Night-Stand der Katharina zu einer Angelegenheit von mangelnder Sexualmoral: Von der biederen Katharina wird das Bild eines Flittchens gezeichnet. Während die junge Frau zu unterscheiden weiß zwischen „Zudringlichkeit“ und „Zärtlichkeit“, werfen die Männer beides in einen Topf. Im Polizeiverhör und mehr noch in der Presse wird die patriarchalisch geprägte Doppelmoral der Gesellschaft deutlich. Einzig Katharinas Arbeitgeber, der erfolgreiche Wirtschaftsanwalt Dr. Hubert Blorna und seine Gattin, unterstreichen die Intelligenz und Eigenständigkeit ihrer Angestellten und billigen ihr trotz der öffentlichen Meinungsmache Augenhöhe zu; auch ihre Freundin und ihre Tante stehen weiter zu ihr.
Das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, das der Roman beschreibt, mag der Grund dafür sein, dass Kraft die Geschichte in Köln mit einem rein weiblichen Ensemble erzählt. Und zwar von drei Katharinas: Lola Klamroth, Rebecca Lindauer und Katharina Schmalenberg sind nicht nur Katharina Blum, sondern sie geben auch alle weiteren Figuren des Romans. Als graue männliche Aktenfresser kommen sie auf die Bühne und rollen den Fall von hinten auf, beginnend mit Katharinas Schuss auf den Journalisten und ihrem freiwilligen Geständnis. Die drei kündigen an, ordnen, dokumentieren und berichten zu wollen. Tatsächlich folgt der Abend lange Zeit den Usancen des Dokumentartheaters.
Auf drei Videowände werden zunächst Fotos vom Tatort, von den beteiligten Personen und von den Beweisstücken projiziert. Auf diesen Videowänden spielt sich – quasi in einer langen Rückblende – das Geschehen ab: Ob der empathielose, machohafte Kriminalhauptkommissar Beizmenne, der schmierige Industrielle Sträubleder, der Katharina immer wieder sexuell belästigt hat, der undurchdringliche, stets todernst dreinschauende Staatsanwalt Peter Hach, der weltläufige Blornau oder dessen ironische, Katharina zugeneigte Frau – sie alle werden auf den Leinwänden durch die drei jeweils perfekt typveränderten Schauspielerinnen verkörpert, während ihr reales Pendant auf der Bühne sich unter das Abbild ihrer Figur stellt und zu deren stummen Lippenbewegungen den jeweiligen Text spricht. Sekundenschnell springen die Schauspierinnen dabei sprachlich von einer Rolle in die andere – als Zuschauer ist man meist auf die Bilder auf den Leinwänden fixiert und nimmt kaum wahr, dass zwei aufeinanderfolgende Wortbeiträge verschiedener Personen von der gleichen Schauspielerin gesprochen werden. Obwohl die Inszenierung dem Konzept spröden Dokumentartheaters folgt, erzeugen die Bildregie und der Sound von Björn SC Deigner eine Spannung, die es mit jedem „Tatort“ aufnehmen kann.
Etwa nach der Hälfte der 140minütigen Aufführung kleiden sich die Schauspielerinnen auf der Bühne langsam um. Aus drei grauen Archivaren werden drei gleich gekleidete und frisierte Katharinas. Die spannende Dokufiction verwandelt sich nun in ein nicht minder spannendes Psycho-Drama. Nahezu alle Indizien sprechen gegen eine Involvierung der Blum in die wie auch immer gearteten Aktivitäten des Ludwig Götten; die aber – eher „zimperlich“ und „prüde“, mit Werten wie „Treue“ und „Stolz“ - ist wehrlos gegen die Folgen des blutrünstigen Sensations-Journalismus. Den drei Video-Katharinas läuft wahrhaftig das Blut aus dem Mund, aber sie lecken auch Blut: Exzellent wird visualisiert, wie die Blum langsam durchdreht angesichts des Verlusts ihrer Ehre und der Bedrohungen durch Obszönitäten, religiöse Eiferer und andere. Die weißen Videowände werden nun bemalt – mit Bildern und Sprüchen zunächst, schließlich wird einfach nur noch schwarze Farbe auf die Wände geworfen. Fratzenhafte Karnevals-Masken tauchen auf. Eigentlich aber reagiert Katharina ganz cool: Ihren größten Peiniger, den Journalisten Tötges, macht sie einfach tot. „Look what you made me do“, singt sie mit Taylor Swift.
Ästhetisch belässt Kraft die Erzählung in den 1970er Jahren; Kostüme, Sprache, Verhalten verankern sie in der Entstehungszeit des Romans. Ein Transfer ins 21. Jahrhundert erscheint überflüssig. Man begreift: Die Einseitigkeit der Ermittlungsarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei unterläuft den Behörden auch heute noch, wie man bei den NSU-Morden oder bei dem einen oder anderen Missgriff in der Verfolgung und Aufklärung des Hanau-Attentats erlebt hat. Die Rolle der Boulevard-Presse ist nicht besser geworden, aber deren Hetzjagden werden überboten von dem, was sich in den Sozialen Netzwerken abspielt. Schlöndorffs Film von 1975, schauspielerisch brillant und künstlerisch routiniert, diskreditierte sich in Teilen aufgrund seiner tendenziösen Haltung. Bastian Kraft verschafft der Geschichte Allgemeingültigkeit und Aktualität.