Wiedergänger – plakativ in kahlem Raum
Die Bühne im Depot 2 umfasst die gesamte Breite des Raumes, ausgeschlagen mit einer schmutzig schwarzen Umwandung, davor rundum schwarze Sitzkisten, in denen die Spieler im Katastrophenfall, dem dramatischen Höhepunkt des Stücks, ins Unsichtbare verschwinden. Ansonsten gibt’s eine zur Gruppe zusammengeschobener sperriger Tische und Stühle und eine große Dia-Leinwand.
Fünf Personen erscheinen, nehmen weit voneinander entfernt Platz vor der dunklen Wand. Aus dem Off ertönt Musik, die das Stück meist verhalten begleiten wird.. Auf der Leinwand erscheinen Dias von einem eleganten Hochzeitspaar, zunächst scharf, bevor sie sich mehr und mehr in Helligkeit und Unschärfe auflösen. (Dias und Fotografie: Lisa Däßler). Eine Frau in blassgrünem bodenlangen Samtkleid zieht ihre Stöckelschuhe aus, lässt sie mitten auf der Bühne stehen, da bleiben sie bis zur letzten Szene, während die Frau - jetzt barfuß beinahe über ihren Saum stolpernd - sich mit dem Rücken zum Publikum vor der Leinwand niederhockt.
Quer über die Bühne – von Wand zu Wand – beginnt Regine, das Hausmädchen, in scharfem Ton gegen die Hintergrundmusik ein Streitgespräch mit dem Mann gegenüber: „Was willst du? Bleib wo du bist. - Halt den Mund! - Verschwinde!“. Abstand, Distanz ist in dieser Inszenierung gleich mit den ersten Sätzen angesagt. Schon schnell wird klar, dieser Mann, der Tischler Engstrand, (schlitzohrig gegeben von Marek Harloff) will was von Regine. Er spielt sich auf als ihr „Vater“, der Forderungen stellen kann, sie aber sieht in ihm nur den Stiefvater und Hallodri, dem nicht zu trauen ist. Er kokettiert mit seinem Holzbein, tänzelt dann aber albern über die Bühne. Er ist sich seiner Sache sicher, er kennt Geheimnisse, weiß um die Gespenster, die in der scheinbar vornehmen Familie Alving herumgeistern.
Dann tritt der Pastor auf, total spießig im beigen Dreiteiler, aber nicht nur sein Outfit strotzt vor Selbstgefälligkeit, auch sein Denken und Urteilen sind anmaßend bis zur Unverschämtheit, seine Ratschläge bedienen die Allgemeinplätze einer verlogenen Gesellschaft und Kirche. Leider gibt Benjamin Höppner diese Figur völlig indifferent. Höchst überraschend fallen dann aber der Pastor Manders und die Hausherrin Frau Helene Alving übereinander her, in dieser von Thomas Jonigk so emotionslos angelegten Inszenierung. Sie werfen sich küssend auf die Seitenbank in Erinnerung an eine alte, verdrängte Liebe, um dann aber selbst darüber zu erschrecken. Auch das nur ein Klischee. Zurück zur Arbeit. Es geht um die Vorbereitung der Einweihungsfeier des „Asyls“, des „Hauptmann Alving Kinderheims“, gestiftet von Frau Helene Alving, um damit alle Gerüchte um das Lotterleben ihres Mannes zum Schweigen zu bringen.
Zu den Feierlichkeiten erscheint der Sohn des Hauses Osvald Alving, ein verhinderter Künstler, der sein Glück vergeblich in Paris suchte. In lila Cordhose und Nerzblouson albert er herum, gesteht dann aber der Mutter, zum Tode erkrankt zu sein - sei es an der Erbsyphilis (an die man zu Ibsens Zeit noch glaubte), oder durch den eigenen Lebenswandel. Jörg Ratjen gibt diesen angeschlagenen Typ am Rande des Schwachsinns reichlich locker. Genau besehen ist der Schauspieler ziemlich alt in der Rolle, tatsächlich im wirklichen Leben älter als Anja Lais, die seine Mutter ziemlich starr, fast puppenhaft gibt. Doch wer genau hinschaut, bemerkt, dass der schöne Bräutigam auf den Dias auch von Ratjen dargestellt wird und damit sind wir an der Initiation der dramatischen Handlung: Osvald tritt als „Wiedergänger“ des verstorbenen Vaters auf, als dessen Ebenbild, seine unerlöste Seele. In der Tat heißt das Stück im Norwegischen Original „Gengangere“, auf Deutsch: Wiedergänger. Wenn rein medizinisch auch einiges überholt ist, so ist das Bewusstsein gernerationsübergreifender Traumata, die als „Gespenster“ Zeiten überdauern, höchst präsent.
Helene Alving, die über Jahre die Deutungshoheit über das verlogene Familiennarrativ fest in der Hand hielt, gibt auf, als sie bemerkt, dass Osvald sich Regine annähert. Beide haben den gleichen leiblichen Vater, den Hauptmann und Kammerherrn Alving, sind Halbgeschwister. Die Reaktion der bis dahin ziemlich emotionslos funktionierenden Regine (statisch gegeben von Kristin Steffen) auf die Aufklärung ist ein rasanter Tobsuchtsanfall, bei dem die Möbel über die Bühne fliegen. Helene fasst trocken zusammen: „Die Kinder werden heimgesucht von den Sünden der Väter.“ Denn „Mein Mann ist so schamlos gestorben wie er gelebt hat- genau so schamlos in seinen Lastern.“
So wie Ibsen das familiäre Lügengebäude zusammenbrechen lässt – das für eine ganze Gesellschaft steht – so geht im Stück das Asyl in Flammen auf. Der entmutigte Pastor, dem alle seine ideologischen Krücken weggebrochen sind, als vermuteter Brandstifter? Ihm bleibt nur der gerissene Tischler Engstrand als Ausweg, den er dafür teuer bezahlen muss. Wenn das abgezweigte Geld auch statt ins Kinderheim ins Bordell fließen wird.
Am Ende sind nur noch Mutter und Sohn auf der Bühne. Beide hatten vergeblich nach der „Lebensfreude“ gesucht. Oswald liegt am Boden. Nachdem die Mutter ihn schon mit dem Leichentuch bedeckte, jammert er noch einmal nach der Sonne. Helene zieht die Schuhe an. Mit ihrem: „Das ertrage ich nicht“, schließt das Stück. Können die Schuhe ein Zeichen sein für ihren späten, vielleicht zu späten Aufbruch?
Ibsen schrieb das Drama zwei Jahre nach Nora oder ein Puppenheim, in dem der Protagonistin der Ausbruch aus der gesellschaftlichen Enge gelingt. Nora stellt ihr persönliches Lebensglück über ihre sozial-moralische Pflicht. In Gespensterschildert der Autor die desaströse Alternative: Helenes Flucht endete vor Jahren bei dem verklemmten Pastor, der sie zurückschickte in die „Pflicht“. Das Fazit: „Ich kämpfe mit Gespenstern. Mit sichtbaren und unsichtbaren.“ Vielleicht lässt Jonigk uns dennoch die Schuhszene als späten Neustart deuten?
Ibsen wollte provozieren, es gelang ihm und das Stück wurde prompt von der staatlichen Zensur betroffen. Zu viele gesellschaftliche Schwachstellen wurden denunziert. Das Programmheft listet sie auf: Untreue, Ausschweifungen, Geschlechtskrankheiten, Ehekämpfe, unerlaubte Liebe, Inzest, Sterbehilfe. Das alles kommt auch in der Kölner Inszenierung vor. (Jonigk kürzt einiges, bleibt aber im Wesentlichen bei der wortgetreuen Übersetzung von Heiner Gimmler vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.) So viele menschliche und gesellschaftliche Schwächen werden berührt, und dennoch verlassen wir die Aufführung völlig ungerührt, vielleicht gar gelangweilt. Was uns begegnet, sind nicht Schicksale, sondern Stereotype in einem nüchternen Puppenheim.