Mit Boot und Batman durch die irische Hauptstadt
„Nee“, sagte Mama, eine gebildete, sehr belesene Anglistin, „den Ulysses kannste nicht lesen“. Und tatsächlich: Im Bekanntenkreis des Schreibers dieser Zeilen findet sich niemand, der sich bis zum Ende durch das Opus Magnum des wohl berühmtesten Vertreters der irischen Literatur gekämpft hat. Tausend Seiten waren dem Herrn wie ein Tag: James Joyces Roman beschreibt in ebendieser Länge den Tagesablauf des biederen Annoncenverkäufers Leopold Bloom am 16. Juni 1904 zwischen 8.00 Uhr morgens und 2.00 Uhr nachts. Der Tag ist nicht besonders ereignisreich, sieht man einmal von einer Beerdigung ab, die Leopold besucht, und vernachlässigt man, dass er an diesem Tag den jungen Intellektuellen Stephen Dedalus kennenlernt, der irgendwie auf der Suche nach einem Mentor und Sparringspartner ist. Ulysses irrlichtert durch Dublin wie Odysseus durchs Mittelmeer. Immer wieder trifft er auf Telemachos – nicht seinen Sohn, sondern eben jenen jungen Mann, der von ihm lernen will und für den Bloom zunächst widerwillig, später mit wachsender Sympathie so etwas wie eine Vaterrolle einnimmt. Zu Hause sitzt Blooms Gattin Molly wie Penelope in Ithaka und macht sich Sorgen.
Doch die Zeit der Helden ist vorbei – Regisseur Nicolas Charaux schreibt es zu Beginn seiner Inszenierung für das Schauspiel Wuppertal in großen Lettern auf die Rückwand der Bühne. Was Bloom und Dedalus erleben, ist ein ganz normaler, mit dem einen oder anderen Termin befrachteter Tag. Anders als bei der Irrfahrt des Odysseus ist ihr Streifzug durch Dublin nicht besonders ungewöhnlich. Der Roman von Joyce dagegen ist es schon: Unterteilt in 18 Kapitel, kann man ihn beinahe zur experimentellen Literatur zählen. Ständig ändert Joyce seine Erzählweise und seinen Sprachstil. Da gibt es Passagen in Alltags-, ja: Gossensprache, da gibt es rhythmische Passagen und ans Altenglische (etwa an Beowulf) angelehnte Absätze; da gibt es ein Kapitel, das vollständig als Frage- und Antwortspiel ausgestaltet und eines, das ausschließlich in Form von Zeitungsmeldungen abgefasst ist, und es gibt jede Menge intellektueller Diskussionen zwischen Bloom und Dedalus. Und dann sind da natürlich noch die berühmten Bewusstseinsströme, die sich mit großer Konsequenz und schwer lesbaren sprachlichen Eigenheiten durch weite Teile des Romans ziehen und die manchmal so sprunghaft und erratisch sind wie unsere eigenen Gedankenströme auch. Schließlich gibt es Pornographisches, Blumiges und Bloomiges. Am bekanntesten ist wohl der Monolog der Molly Bloom am Ende des Romans: Acht Sätze auf achtzig Seiten ohne jegliche Interpunktion. Wenn Mark Antons Rede auf den toten Caesar so etwas wie der Prototyp einer rhetorisch brillanten, ja: demagogischen Rede ist, so ist Molly Blooms Monolog vielleicht so etwas wie der Prototyp eines ungefilterten Gedankenstroms.
Von all dem – naja, von beinahe all dem – finden sich Spurenelemente oder auch kurze Beispiele in Nicolas Charaux‘ Inszenierung. Von 987 Suhrkamp-Seiten sind circa 36 Wuppertal-Seiten übriggeblieben. Die Aufführung kommt mal humorvoll, mal versponnen und in ihrer besten Szene als absurde Halluzination daher. Sie beginnt in einem fast schon großbürgerlichen Setting mit weißen Wänden, weißen Möbeln und schwarz im Stile der Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts gekleideten Menschen; zur Mitte dominiert eine Comic-Ästhetik, und zum Schluss, bevor und während Julia Meiers Molly in einem durchaus handfesten Auftritt ihren stark gekürzten und keineswegs mehr schwierigen Monolog spricht, machen Thomas Braus als Leopold und Konstantin Rickert als Stephen, inzwischen hoffnungslos betrunken, eine Art angelsächsischer Krimi-Komödie aus ihrem nächtlichen Einbruch ins eigene Haus. Zwischendurch gibt es eine heitere Spanner-Episode, als Bloom Gerty Mcdowell und ihre Freundin heimlich am Strand beobachtet und das Publikum sich schmunzelnd auf deren Liebessehnsüchte im Stile viktorianischer Trivialromane einlassen kann.
Charaux und sein fünfköpfiges Team auf der Bühne, in dem jede und jeder eine Vielzahl von Rollen übernimmt, eilen und stolpern in 90 Minuten durch den Mammut-Roman. Der Regisseur will nicht die ohnehin kaum linear erzählbare Handlung auf die Bühne bringen, sondern einen Eindruck von der handwerklich-künstlerischen Vielfalt des Werks vermitteln. In der „Arie der Teekanne“ wird mit unendlicher Detailverliebtheit und Genauigkeit die Zeremonie des Teekochens und der Essenszubereitung geschildert; dem Geräusch des langsamen Erwärmens des Wassers im Teekessel vermögen wir eine geschlagene Minute lang ohne Ablenkung zu lauschen. Das ist durchaus witzig. Ausführlich wird auch Blooms Darmentleerung geschildert – die Drastik einzelner Passagen des Romans wird deutlich, wenn auch in diesem Falle auf humorvolle Weise ausgespielt. Anlässlich von Paddy Dignams Beisetzung folgt ein erster Gedankenstrom über Leben und Tod, der dem ganz praktisch-realen „Strom des Lebens“ auf der Einkaufs- und Flaniermeile Westmorland Street vorausgeht. Durch Video-Überschriften und die genaue Nennung der Uhrzeit werden die Handlung und der Tag von Leopold und Stephen strukturiert: Um 16.00 h schlägt die Stunde der Helden. Es sind neue, sehr alltägliche Helden, die die alten aus den griechischen Mythen ablösen. Sie treten auf in den Kostümen der Moderne: als Batman und Robin. Ein eher karnevalesk gekleideter Poseidon hält sich den Zyklopen als Haustier; ein anderer kommt im Kanu vorbeigerudert (Odysseus‘ Segelboot lässt grüßen); Julia Meier läuft als Einhorn herum und spielt in dieser Kostümierung die eine oder andere Joyce-Rolle. Irgendwie rekurriert die Comic-Ästhetik natürlich auf die alten griechischen Mythen, die Joyce seinem Roman, ohne sie explizit zu nennen, unterlegt hat. Ob das überzeugt, ob das Spaß macht, ist Ansichtssache. Charaux, das wissen wir aus seiner brillanten Romeo und Julia-Inszenierung und seinem amüsant-intelligenten Faust, ist ein Spezialist darin, schwere Stoffe leicht auf die Bühne zu bringen. Am besten passt das diesmal zum „Circe“-Kapitel des Romans: Abenteuerlich absurde halluzinatorische Szenen bringt Charaux da mit wundersamen Bildideen auf die Bühne.
Am Ende fahren Leopold und Stephen zu den Blooms nach Hause. Die irischen Produkte sind die besten der Welt, hatten sie zuvor in der Kneipe festgestellt: die irischen Menschen sowieso, das irische Bier, die irische Butter (die Stiftung Warentest war da vor einigen Jahren anderer Meinung), die irischen Autos ebenfalls. Wie bitte – irische Autos? Da steigen sie ein, Thomas Braus und Konstantin Rickert, in ein etwas lädiertes Pappmodell eines DeLorean DMC-12. Sie erinnern sich? In den Jahren 1981 und 1982 war er kurz am Markt, dieser rassige Sportwagen mit seiner garantiert rostfreien Edelstahlkarosserie. Produziert wurde er in: Belfast, Northern Ireland. Dass Sie ihn mutmaßlich nie haben fahren sehen, ist nicht verwunderlich: Er war immer kaputt. Braus und Rickert bugsieren ihn mit den Füßen kreuz und quer über die Bühne, bis sie tatsächlich in der Eccles Street 7 ankommen, dem Wohnhaus von Leo. Den Schlüssel haben sie vergessen.
Das klingt gut? Klingt witzig? Ach, ich weiß es nicht. Der Roman von James Joyce ist nichts für Anfänger – und die Wuppertaler Inszenierung ist es auch nicht. Die berühmte Leichtigkeit des Nicolas Charaux kommt diesmal recht bemüht daher. Die eineinhalb Stunden werden ganz schön lang, denn die Inszenierung bekommt so recht keinen Spannungsbogen zustande. Immer wieder merkt man auf angesichts von schönen Bildideen, gelungenen atmosphärischen Wechseln, tollen neuen Kostümen. Ja, die Vielfalt des Romans exemplarisch in einzelnen Szenen zu zeigen, gelingt. Aber das Ganze bleibt Stückwerk.