Krähe - ein Mythos, der manipuliert und manipuliert wird
Während des Einlasses ist die Bühne hell erleuchtet, man sieht ganz hinten neben einer großen Leinwand einen Mann auf der Stelle treten, unauffällig in grauem Alltagsoutfit: Sweatshirt und Hose; vorne rechts steht ein einfacher Stuhl hinter einer Live-Kamera.
Irgendwann setzt sich der Mann hinter die Kamera, riesig erscheint sein Portrait auf der Projektionswand. Wir sind in einer Londoner Dreizimmerwohnung.
Vier Tage nach dem Unfalltod seiner jungen Frau weiß der Witwer nicht weiter, sieht sich als Organisator und Makler von Dankbarkeitsphrasen und mechanischen Planer der Abläufe von Kindern ohne Mutter. Benennt Trauer als vierte Dimension, abstrakt, vage bekannt. Das alles gibt Risto Kübar ergreifend in melancholisch, leicht verfremdetem Ton. (Seine estnische Muttersprache schimmert da wohl durch.) Er verlässt die Bühne, setzt sich in die erst Reihe. Inzwischen sind die Kinder erschienen, im Roman ein kleines Zwillingspaar, das stets mit einer Stimme spricht, auf der Bühne zwei Jugendliche, Junge und Mädchen, mit unterschiedlichen Rollen. Während die beiden vergnügt berichten, wie sie einen Fisch qualvoll zu Tode richteten, stürzt der Vater entsetzt zurück ins Geschehen. „Ihr habt was Schlimmes getan“, schreit er.
Trauermusik setzt ein, im Saal und auf der Bühne wird es dunkel, die Hinterwand geht hoch, Nacht und Nebel breiten sich aus, ein gellendes, irrwitziges Krächzen durchstößt die Musik. Aus dem Qualm löst sich eine menschengroße dunkle Vogelgestalt, von Kopf bis Fuß in glänzend-schwarze Federn gehüllt, mit weitausgreifenden Flügeln: das ist Krähe, umwerfend gespielt von Anna Drexler. „Ich gehe erst wieder, wenn du mich nicht mehr brauchst“, beteuert sie mehrfach dem erschrockenen Hausherrn, der sich vor Schreck in die Hosen macht.
Krähe stellt sich vor, sie kann in vielen Versionen auftreten, als Deus ex Machina, Scherz, Phantom, Analytiker, Babysitter, Freund. Hier diagnostiziert Krähe: „AKUTE TRAUMA INDUZIERTE FUNKTIONSSTÖRUNG.“ Für sie: heilbar.
Max Porter greift vermutlich auf die nordamerikanische Mythologie zurück, in der der Krähenvogel als Götterbote, Heilsbringer und Beschützer verehrt wird. Aber auch im alten Rom wurde er als Vogelorakel nach der Meinung der Götter befragt. Vielleicht kommt die Porter’sche Krähe aber auch nicht aus dem Mythos der Antike, sondern aus dem berühmten Gedichtzyklus CROW des englischen Dichters Ted Hughes aus dem Jahr 1970, über den unser Protagonist – ein Schriftsteller in akuter Schaffenskrise – gerade ein Buch zu schreiben versucht.
In der Inszenierung von Christopher Rüping ist Krähe Trauer-Therapeutin, Freundin, auch Musikerin und in irren Aktionsszenen bravouröse Kämpferin. Dabei tritt sie immer wieder aus der Rolle heraus, fragt einmal ins Publikum, ob noch jemand Fragen an sie habe. Tatsächlich meldet sich einer, ihm wird gedankt und beschieden, dass er zwar Fragen stellen dürfe, es aber keine Antworten gäbe.
Als ihr „Patient“ so gar keine Anstalten macht, sich eine neue Partnerin zu suchen, droht sie ihm - gendergerecht - eine Zuschauerin oder einen Zuschauer für ihn auszuwählen. Wendet sich an eine junge Frau, die geht darauf ein, nennt ihren Namen: Viola. Viola muss nicht auf die Bühne, wird aber später als Drohung erwähnt. Auch zwei Zuspätkommerinnen müssen es sich gefallen lassen, von Anna Drexler bei ihrer Platzsuche improvisierend kommentiert zu werden. Das alles – und vieles mehr – gibt herzliche Lacher bei einem ja doch eher ernsten Thema.
Es gibt interessante Therapieansätze ganz aus dieser Welt: die Kinder sollen die Mutter-Erinnerungen zerhacken und wieder zusammensetzen, für das beste Stück verspricht Krähe das Erscheinen der Mutter. Es entstehen liebevolle, lebensnahe Szenen. Das war’s. Die versprochene Belohnung bleibt aus: Der Weg war das Ziel.
Irgendwann kommt Krähe in schickem Lederanzug, nur mit wenigen Federn besetzt, denn sie ist kampfesbereit. Der Dämon, der im Buch nur anklopft, aber nicht eingelassen wird, erscheint auf der Bühne als bizarres Reptil (herrlich komisch: Anne Rietmeijer), das sich als tote Mutter ausgibt und sich an den Witwer heranmacht. Krähe greift ein, eine rasante Prügelei beginnt, Blut spritzt, der Kampf verlagert sich von der Bühne in die Büroräume des Hauses, wir verfolgen das Ganze live im Video, doch als sich die beiden auf der Leinwand noch mit Torten bewerfen, kämpfen sie ganz real schon wieder auf dem Boden der Bühne, fechten noch ein paar Runden bis Krähe schließlich das Ungeheuer mit der Pistole erschießt, zerhackt und zerstückelt – eine verrückte Show-Einlage! Für die in Siegestaumel hochgerissenen Eingeweide des Opfers gibt es Szenenapplaus und Pfiffe. Irritierend, dass der Witwer den Resten des Phantoms noch erliegt und sich daraufwirft. Inzwischen ist es wieder hell im Saal, damit wir die rasante Sauerei auf der Bühne auch alle sehen können.
Nach minutenlanger Stille gibt’s auf der Projektionswand eine Flugschau mit Adler und Krähe, bei der die Krähe ihr Nest verteidigt. Ein analoges Bild, zum besseren Verstehen? Im letzten Auftritt legt sich Krähe einen gefiederten Reifrock um, sie ist fertig, zögert aber zu gehen.
Dann ein wunderbares Schlussbild: eine Windmaschine wird aufgefahren, Vater und Kinder streuen die Asche der Mutter aus und zu Mozarts Musik schwebt ein schwarzer Federsturm aus dem Bühnenhimmel - doch ganz versteckt im Hintergrund ist die wunderbare Krähenfigur noch zu erkennen.
Max Porters Debütroman Trauer ist das Ding mit Federn wurde schon mehrfach für die Bühne adaptiert. Christopher Rüping bringt mit seiner Bochumer Arbeit zugleich den dritten und letzten Teil seiner Familientrilogie, die er 2020 in Zürich mit Einfach das Ende der Welt von Jean-Luc Lagarce begann und mit Brüste und Eier nach Mieko Kawakami 2022 am Hamburger Thalia Theater fortsetzte.
Der Porter‘sche Text liest sich auch ohne Bühnenbearbeitung wie ein langes poetisches Gedicht aus Monologen, Dialogen und poetischen Einschüben. Dabei fehlt es nicht an literarischen Verweisen (so wird ganz konkret einmal mit Seitenzahl auf Collins Bird Guide verwiesen.)
Manche sprachliche Feinheit des Originals geht auf der Bühne allerdings verloren, so die sprachkreativen Wortschöpfungen, die gesprochen kaum auffallen oder die nahezu expressionistischen Wortkaskaden von Krähe, die vielleicht bühnenwirksamen ekstatischen Showelementen weichen mussten. Für eine grandiose Aufführung von zwei Stunden ohne Pause gab’s frenetischen Applaus.