Übrigens …

Die Familie Schroffenstein im Theater Duisburg

Die Witchcraft nützt nichts

Oh Mann, ist das ‘ne olle Scharteke! Kleists Erstlingswerk, 1803 noch im Schutze der Anonymität erschienen, ist eine Art Romeo-und-Julia-Überschreibung durch einen hitzigen, radikalen jungen Autor und enthält viel Gewalt, hasserfüllte, teilweise auch etwas holzschnittartig geratene Figuren und überraschende Wendungen. Es spielt einige hundert Jahre vor dem Shakespeare-Drama bei die alten Rittersleut‘: der gräflichen Familie Schroffenstein. Die beiden Zweige der Familie, die Rossitz‘ und die Warwands, sind verfeindet und in höchstem Maße misstrauisch: Ein uralter Erbvertrag bestimmt, dass im Falle des Aussterbens eines dieser Zweige dessen Besitztümer vollständig ins Eigentum des verbliebenen Familienteils übergehen. Nun aber ist der Rossitz’ jüngster Spross, der kleine Peter, tot aufgefunden worden. Nicht nur das: Ihm fehlt der kleine Finger der linken Hand. Looks like Ritualmord, denkt der Freund alter Horrorfilme. Sieht aus, als ob die Warwands schon mal anfangen, für ihr Erbe zu sorgen, denkt der furchtlos furchtbare Rupert Graf von Rossitz.

Nichts davon wird stimmen, ist ja klar. So wie auch Gertrud Warwands Vermutung, die Rossitzens hätten ihren Sohn Philipp entsorgt, nicht stimmt. Aber jetzt geht’s los: mit Hass und Racheplänen, mit Mord und Totschlag, mit Hexenwerk und Liebeshändel. Die komplizierte Geschichte mit ihren Toten und Totgeglaubten wollen wir hier gar nicht rekapitulieren, aber selbstverständlich ist Verwicklung Nummer eins, dass der gute Ottokar von Rossitz sich in die noch viel gutere Agnes von Warwand verliebt, die zu allem Übel außerdem von Ottokars Stiefbruder Johann begehrt wird. In der Aufführung des Staatsschauspiels Dresden, die im Rahmen des Akzente-Theatertreffens im Theater Duisburg gastierte, gleicht das süße Mädel aufs Haar genau der Jungfrau Maria in der Kirche. Ein bisschen frecher spielt Henriette Hölzel sie allerdings schon - zudem ist Agnes mutmaßlich wirklich noch Jungfrau, bedenkt man, wie mutig sie sich gegen den anstürmenden Johann wehrt. - Als Vermittler zwischen den Streithähnen der Alten versucht sich Onkel Jeronimus, ein Schroffenstein aus dem Hause Wyk, der sich auch bemüht, den vermeintlichen Mord am kleinen Peter aufzuklären. Er weiß: „Fast kein Minnesänger kann etwas Besseres ersinnen als eine Hochzeit zwischen den verfeindeten Familien.“ Doch die Indizien, auf die er stößt, sind merkwürdig; den Johann hat er zudem im Verdacht, die Agnes töten zu wollen - und so ist auch Geronimo bald in trouble und wird das Stückende nicht erleben.

Erstmal aber wird Jeronimus investigativ tätig. Und von wo kann man das in einem alten Kleist-Krimi besser erledigen als aus dem Publikum? Da kommt Matthias Reichwald also herein, drängelt sich mit Federhut und Armbrust quer durch die gesamte dritte Reihe, entschuldigt sich für seine in der Enge des Zuschauerraums unpassenden langen Schnabelschuhe und nimmt mitten im Auditorium Platz. Da sitzt er eigentlich gut, denn bei den Schroffensteins sitzt er bald zwischen allen Stühlen. Der rohe Rupert Graf von Rossitz (etwas eindimensional als mieser kleiner Wutbürger: Viktor Tremmel) lässt ihn zum Verdruss seiner (Ruperts) Gemahlin töten, wofür er von seiner Gattin einen ordentlichen Einlauf kriegt.

„Warum so ironisch?“, würde Karl Schulte, des Rezensenten unvergessener Deutschlehrer, spätestens jetzt in roter Tinte an den Rand schreiben. Nun, Regisseur Tom Kühnel lässt die Scharteke spielen als wäre sie tatsächlich eine Scharteke. Kleist-Fans müssen keineswegs auf ihre geliebte und bewunderte Kleist-Sprache verzichten, aber ob die immer so klingt wie sie das schätzen? Von „B-Movie-Ästhetik“ spricht der Kollege vom MDR zutreffend; Kühnel inszeniert eine wilde Abenteuergeschichte - und das mit einigem aufgetragenem Pathos. Sprechweise, Gestik, Kostüme, die bizarre Turmfrisur von Karina Plachetkas Gertrude aus dem Hause Warwand - alles erscheint in zunehmendem Maße gewollt überzogen und ist zwar witzig, trägt aber nicht über eine Aufführungsdauer von zwei Stunden vierzig Minuten. Es trägt nicht mal bis zur Pause, obwohl man zugeben muss: Schlecht spielen können die meisten Schauspieler gut. Henriette Hölzel übrigens muss das gar nicht: Die darf einfach der lieblichen Jungfer einen erstaunlich emanzipierten Kern geben.  

Kühnel hat, wenn nicht alles täuscht, ziemlich viel Spaß gehabt bei seiner temperamentvollen Haudrauf-Inszenierung, und letztlich kann er sich sogar auf seinen Autor oder einige von dessen Figuren berufen. Deren Missinterpretation des Geschehens stellt er jedenfalls in seiner Inszenierung recht offensiv aus: Johann, nach dem vergeblichen Werben um Agnes und seiner Beinahe-Ermordung aufgrund eines fatalen Missverständnisses ziemlich durch den Wind, kräht, das Ganze sei ein Spaß zum Totlachen, während die Hexen irritierenderweise von einem Versehen reden, wenn die hasserfüllten Väter heimtückisch den Degen zücken. Hat vielleicht auch der Katastrophenjunkie Kleist das eine oder andere nur ironisch gemeint?

Egal - mit den Hexen jedenfalls wird alles gut. Mina Pecik als Totengräberwitwentochter Barnabe bespricht ihr Kesselchen und kocht ihren Zauberbrei mit dem Kinderfinger des kleinen Peter als besonderer Delikatesse, und das B-Movie scheint sich zu einer Gespenstersonate zu entwickeln. Aber mit Ironie und Haudrauf-Humor ist nun Schluss: Barnabe dirigiert eine wunderbare, in Zeitlupe gespielte Versöhnungsszene unter Beteiligung sämtlicher Warwands und Rossitz‘. Agnes wirft den Brautstrauß und empfindet das als veritablen Schenkelklopfer. Die Aufführung aber wird berührend; auch Kleists Sprache wird nun geradezu zelebriert. Doch leider sind die einander wie im Tanz zugetanen Schroffensteins nur Traumgespinste; Barnabes Witchcraft, so sie die denn konstruktiv einzusetzen gedachte, ist vergeblich. Für Agnes und Ottokar heißt es weiterhin, vor den Vätern zu fliehen. In einer wahrhaft paradiesischen Szene machen sie sich nackt und unschuldig wie Adam und Eva vor dem Sündenfall und wechseln ihre Kleider. Es geschieht, was geschehen muss: Rupert trifft auf seinen Sohn, der nunmehr weiblich gelesen werden will, und tötet ihn im Glauben, es handele sich um die Warwand’sche Aggi. Wie Jesus sieht Ottokar nun aus, und es gelingt ihm noch, seiner Geliebten zuzurufen: „Es ist vollbracht.“ Dann stirbt auch Agnes in den Armen ihres Vaters Sylvester, die sie für Otto hält. Barnabe, die schöne Hexe, erzählt zu spät, dass sie dabei war, als der arme Peter versehentlich im Brunnen ertrank...

Die letzte halbe Stunde reißt die Inszenierung raus. Aus der Scharteke wird plötzlich ein zutiefst berührendes Kunstwerk. Konstantin Wecker würde das wohl wie folgt subsumieren: „Man gruselt sich noch etwas im Gedränge / und ist zufrieden: Das Programm war gut.“