Freundschaftsbande zwischen Weinen und Lachen
Dreiundneunzig Stufen hoch, bis unters Dach des pompösen Duisburger Theaterbaus zum Foyer III, der Experimentierbühne des Hauses. Da liegen auf der schmucklosen Spielfläche ein paar Gitter, auf denen man später sitzen oder balancieren wird (Bühne und Kostüme: Frederike Marsha Coors).
Wir sind in der gemeinsamen Wohnung von Lou und Aude, zwei höchst unterschiedlichen Frauen: Lou (brillant beweglich: Stefanie Winner) groß, schlank, in brauner Cordhose und gepunktetem Hoodie, versteht sich als Feministin im ganz individuellen Sinne; Aude hingegen, eine erfolgreiche Bauingenieuren, eher bieder im Karokleidchen und Blazer, voller Selbstzweifel und Unsicherheiten (anrührend gegeben von Sina Ebell).
Die erste Szene spielt „drei Jahre vor heute“. Während Aude gemütlich vorm Fernseher sitzt, in dem gerade von einem Mann die Rede ist, dessen Vater zugleich sein Bruder ist, kommt Lou in Panik hereingestürzt, mit Partyhütchen auf dem zerzausten Haar und der Hand voller Steine, ruft nach der Freundin , kommt aber über ein „Ich hab…“ in ihrem Bericht nicht hinaus.
Der Verdacht schleicht sich ein, dass ihr was Schlimmes passiert ist, da sind wir aber schon in völlig neuem Ambiente: dreißig Jahre zurück in der Kinderkrippe ist Stefanie Winner zugleich die Erzieherin „Sybille mit der Brille“, die vom Beginn der Freundschaft der beiden berichtet, und die dreijährige Lou, die auf Knien zur kleinen Aude rutscht. Unglaublich, wie bravourös die beiden Schauspielerinnen die Zeiten-, Personen und Situationswechsel erspielen, die ihnen die frankokanadische Autorin Rébecca Déraspe ins Buch schreibt.
Wenig später durchlaufen die beiden auf dem Gitter hockend in rasantem Tempo die Abfolge von Audes Geburtstagen: Lou stets gut gelaunt mit Partyhütchen, Aude immer wieder unter Tränen: „Ich hasse mich. Ich bin einfach Scheiße. Ich bring mich um.“ Dazu noch eine Schulszene der fünfzehnjährigen Aude im Physikunterricht, in der sie einen Fehler der Lehrerin korrigiert, die aber boshaft erwidert, Aude solle ihren klugen Verstand vergessen, da er sich für Frauen nicht lohne.
Dann, ganz unvermittelt nach „Prolog“ und „Vorspann“ kommen wir im „Heute“ an, beim Problem des Stückes: Aude ist schwanger mit einem behinderten Kind: Trisomie 21 wird diagnostiziert und die Ärztin hält die Unterlagen bereit für Abtreibung und eingeleitete Totgeburt. Aude rennt aus der Praxis, ihr Partner David (von dem wir nur hören) nimmt die Papiere entgegen. Damit tut sich ein Bündel an Problemen auf. Wir werden aufgeklärt über medizinische und biologische Zusammenhänge, erfahren was Keimzellen sind und bedeuten, vor allem aber reißt Lou in ihrem Versuch, Aude zur Abtreibung zu bewegen, die Situation der gesamten Welt als Problemfeld auf. Wohnungs-, Einkommens-, Sex- und Meinungsstatistiken werden zitiert und das Schicksal der Frau und Mutter dramatisiert.
Das alles temperamentvoll, interessant in ergreifenden Dialogen und Spielszenen, bis plötzlich alles kippt: Das Bild des sich entziehenden Kindsvaters will so gar nicht stimmen, da David, der Betroffene, bereits seine Kündigung verfasste, um für das Kind dazusein, und die so sicher und selbstbewusst wirkende Lou gesteht, nicht etwa seit damals vor drei Jahren an den Folgen einer Vergewaltigung zu leiden – wie sie gern alle annehmen ließ – sondern an der Tatsache, dass sie nicht eingriff, als sie erlebte, wie einem anderen Mädchen Schlimmes geschah. Dass sie die Steine nicht warf, die sie schon in der Hand hielt.
Im letzten Bild sitzen die zwei Frauen wohlgelaunt auf den Gittern, die sie zu einer Brücke aufstapelten, und schauen zuversichtlich in eine zwar ungewisse Zukunft, in der jedoch auch das „weiße Chinesengesicht von Audes Tochter seinen Platz hat“ und in der ihre eigenen Stimmen „lauter singen als der Chor der Leute mit Überzeugungen“, die ewigen Besserwisser.
Ein Stück über Behinderung, Geschlechterrollen aber vor allem über Freundschaft, die schonungslos ehrlich, auch verletzend, letztendlich aber hilfreich sein kann.