Wenn die Kirchenglocke verstummt
Die Wände der Studio-Bühne sind schwarz ausgeschlagen. Auf schwarzem Bühnenboden stehen schwarze, vielleicht aus der Entstehungszeit von Jean-Paul Sartres Stück gegen Ende des 2. Weltkriegs stammende Stilmöbel als Sitzgelegenheiten - und schwarz sind auch die Kostüme der Schauspielerinnen und Schauspieler. Nur der geheimnisvolle, ach was: unheimliche Türhüter dieser Hölle trägt eine giftgrüne Jacke. Das Höllenfeuer brennt auf kleiner Flamme in einem schwarzen Lüster und einem schwarzen Kanonenofen. Und doch ist der Raum nicht die düsterste Erfahrung, die die drei Protagonisten machen müssen, die nach und nach von dem merkwürdigen, grün bejoppten „Wesen“ hereingeführt werden. Das schließt zügig hinter sich die Türe: Lea Krämer spielt das beklemmend; ein undefinierbares, wenig vertrauenerweckendes Lächeln spielt um die Lippen des trotz langer brauner Locken androgyn wirkenden „Wesens“. Ab und zu hört man sie draußen lachen, höhnisch vielleicht, amüsiert angesichts der Naivität der neuen Schützlinge. Sie sollen es hören, die drei, denn die gemütliche Dunkelkammer ist kein Wohlfühlparadies.
Vor dem Gesetz steht oder sitzt ein Türhüter, und das Gesetz lautet: Hier kommt keiner wieder raus. Das „Wesen“ genießt die Irritation der drei Insassen, die allerdings von Anfang an wissen, dass sie in der Hölle gelandet sind. Ob sie auch wissen, warum? Ob sie ihre Schuld vor den anderen geheim halten wollen oder ob sie wirklich verdrängen, aufgrund welcher Taten und Verhaltensweisen sie hierher geworfen worden sind? Man taktiert, man belügt einander - und man belügt sich selbst. Zumindest Garcin hat den Selbstbetrug sein Leben lang eingeübt, und er ist der erste, der dies nun erkennt. Die Hölle sind die anderen: Da sie alle drei nicht die Klappe halten können, werden Selbstbetrug und sonstige Vergehen bald schonungslos aufgedeckt. Und da hier drei vollkommen unterschiedliche Menschentypen miteinander eingeschlossen sind, geht man sich mächtig auf den Keks.
Da ist als erstes Richard Wilke als Joseph Garcin. Er überragt die beiden anderen um Haupteslänge – und sinkt doch immer wieder angsterfüllt in sich zusammen. Der brasilianische Journalist und Regimekritiker, vom Lebenslauf her eigentlich die interessanteste Figur der Eingeschlossenen, hat sich sein kurzes Leben lang mit zahlreichen Frauen vergnügt, seine eigene jedoch mit Wonne erniedrigt und gedemütigt. Illusionen hat er sich sowohl über seine politische Rolle als auch über die als Ehemann gemacht. Nun ist er nur noch darauf bedacht, nicht als Feigling zu gelten - und kriegt gleich die volle Breitseite von der zweiten Insassin dieses Post-Mortem-Knasts: „Belästigen Sie mich nicht mit Ihrer Angst“, raunzt Inès ihn an: „Angst konnten wir vorher haben, als es noch Hoffnung gab“.
Inès – einen merkwürdigen Charakter hat Sartre da geschaffen, sicher nicht ohne ideologischen Hintergedanken. Postangestellte ist sie – und die Intellektuellste der drei. Sandra Busch ist rein optisch die kleinste der Schauspielerinnen – aber von ganz weit oben herab blickt sie auf Garcin hinunter, den Jammerlappen und Deserteur, dem sie erbarmungslos seine Unterlegenheit als Mann und als Intellektueller vermittelt. Nicht dass wir uns falsch verstehen: Auch Richard Wilke barmt nicht den Tränen nahe herum. Sartres intellektuelles Thesenstück wird – zumindest vorerst – intellektuell, sprich: in gefasster Stimmung gespielt. Sandra Buschs Inès aber ist eine Wucht. Sie gibt die starke Frau, unabhängig, klar im Denken, unwillig, in soziale Kontakte zu treten. Distanziert, misstrauisch, ohne jedes Bemühen um Höflichkeit. Jedenfalls solange sie nur den Knaben Garcin als potentiellen Gespielen hat. Dann aber wird Estelle hereingeführt:
Estelle – naiv, blond, ein bisschen kapriziös. Auf Schwarz will sie nicht sitzen, das Rouge wird aufgelegt, der Lippenstift nachgezogen. Sie ist zwar tot, aber braucht offenbar die Schönheit fürs Selbstwertgefühl. Sina Hentschel gibt die männermordende Frau mit großartiger Mimik ganz gegen ihren Typ, und ganz gegen ihren Willen zieht sie nicht die erotische Aufmerksamkeit des Garcin an, sondern die von Inès. Die kann auf einmal zuckersüß lächeln. Inès ist lesbisch – und wenn sich Garcin Estelle doch einmal auch körperlich nähert, so nicht aus erotischem Interesse, sondern um Inès zu provozieren. - Das Vergehen der Liebhaberin der Damenwelt wird schnell offenkundig: Sie hat den Mann ihrer Freundin in den Tod getrieben, und Florence hat daraufhin den Gashahn aufgedreht. Hentschels gut gelaunte, sich lange gelassen gebende Estelle dagegen hat ihr Kind getötet, das ihren Beziehungen im Wege stand. Da sie auf ihren guten Ruf achten musste, hat auch Roger, der Zeuge dieser Tat, das Geschehen nicht überlebt…
Nach dem Tod zieht Estelles angebliche Verführungskraft nicht mehr – und die von Inès dem eigenen Geschlecht gegenüber auch nicht. Aber Schadenfreude, Eifersucht und erotische Gelüste gibt es nach wie vor – sowohl untereinander als auch mit Blick auf die Nachwelt. Durch ein schmiedeeisernes Tor können die Insassinnen zurück in die Welt der Lebenden schauen. Auch die mangelnde Fähigkeit, sich vom Geschehen in der Welt der Lebenden zu lösen, wird so zur Hölle für die drei (zumindest für die beiden Damen). Mehr noch aber werden sie einander zu Folterknechten und -mägden – drei höchst lebendig erscheinende Tote, die einander sowohl als Peiniger als auch als Opfer ausgeliefert sind. Am eindrucksvollsten verkörpert das Sandra Busch, aber auch die übrigen vermögen eine höchst beklemmende Stimmung zu verbreiten.
Ein wenig lang gerät am Ende die Diskussion über die Angst des Garcin, als Feigling zu gelten – dass seine Resilienz nicht allzu ausgeprägt ist, zeigt Richard Wilke ja von Beginn an deutlich. Die Auseinandersetzung wird laut und emotional; die Figuren verlieren nun ihre Fassung. Auf diese Weise will die Regie wohl die Eskalation der Situation vorführen: L’enfer, c’est les autres. In der Enge des Raums benötigen die Herren der Finsternis keine eigenen Folterknechte mehr – die Eingeschlossenen erledigen das höchst effizient selbst. Ob die Lautstärke dazu erforderlich ist? Dem Schreiber dieser Zeilen hätte die Fortsetzung des leisen, subtilen Horrors mehr eingeleuchtet – aber das ist zugegebenermaßen Geschmackssache. Längst liegt ein Bann über diesem Raum. Das grüne Wesen hat die Tür beim letzten Mal offen gelassen, aber niemand vermag sie mehr zu durchschreiten. Die Klingel, mit Hilfe derer sich die Eingeschlossenen bemerkbar machen könnten, hatte nur am Anfang, beim Einzug Garcins, wie eine Kirchenglocke geklungen. Da war die Hölle noch ein leerer, halbwegs wohnlicher schwarzer Saal, und es mag noch Hoffnung auf Gott gegeben haben. Nachdem die anderen eingetroffen sind, erklingen keine Kirchenglocken mehr. Die anderen erst funktionieren den schwarzen Raum zur Hölle um.