Nach Hause wollen alle
Spätestens mit ihrem von tiefschwarzem Humor durchtränkten Stück Green Corridors, das im April 2023 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde, ist die ukrainische Autorin Natalka Vorozhbyt auch in Deutschland bekannt geworden. Sie ist in Kiew geboren und aufgewachsen, und da kommt man regelmäßig an dem wunderschön renovierten Wohnhaus des später in Moskau lebenden, im Stalinismus von der Zensur verfolgten russisch-ukrainischen Satirikers Michail Bulgakow vorbei. Sie wissen schon: Bulgakow ist der Meister, der Der Meister und Margarita geschrieben hat, einen der größten Romane russischer Sprache, eine Faust-Überschreibung, in der statt eines Pudels ein Kater auftritt. Der spielt eine viel wichtigere Rolle als der Köter in Goethes Faust. Behemoth heißt das Tier; es sorgt in Bulgakows Roman für eine Menge Unruhe - und beim Leser für viel Vergnügen. Vielleicht war Behemoth ja Vorbild für den Kater, den der Schauspieler Jan Pröhl in Vorozhbyts Auftragsarbeit für das Schauspiel Essen verkörpert: im schwarzen Fellmantel, mit langem Teufelsschwanz und grandios lustig. Das Vieh vermisst Stabilität und hält Monologe - über seinen Kater-Freund Tschechow, den er beim Streunen in der Nachbarschaft getroffen hat und dessen Namen er nicht mag, über die Flucht aus der Ukraine - und über seine posttraumatische Belastungsstörung. Die kann man zweifellos auch als Kater kriegen, wenn der Teufel aus Russland über die Heimat herfällt.
Pröhl macht das toll; seine Auftritte werden zum Höhepunkt der gut zweistündigen Aufführung in der Casa, dem Kleinen Haus des Schauspiels Essen, und kommentieren mit Witz und Verstand die Situation der flüchtenden Familie und der notwendigen oder freiwilligen Trennungen im Angesicht des Krieges. Vorozhbyt hat eine Komödie geschrieben - eine Komödie über den Ukraine-Krieg. Dass die viele bittere Wahrheiten enthält, versteht sich von selbst. Und dass Vorozhbyt einige Expertise hat im Hinblick auf die von ihr im Stück geschilderten Situationen, ist ebenfalls selbstverständlich. Denn ihr Text enthält viele autofiktionale Elemente: Die Autorin ist nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mit Mutter und Tochter nach Westeuropa geflohen und lebt nun hauptsächlich in London, wobei sie wie viele geflüchtete Ukrainerinnen immer häufiger in ihre Heimat zurückkehrt.
Großmutter, Mutter und Tochter sind auch in Vorozhbyts Auftragswerk für das Schauspiel Essen die Hauptfiguren. Die drei Schauspielerinnen aus dem Essener Ensemble werden sogar gedoppelt: Mit ihnen stehen drei ukrainische Statistinnen auf der Bühne, auch sie drei verschiedenen Generationen angehörend und so für eine besondere Authentizität sorgend, auch wenn ihre aktiven Auftritte sich auf wenige kurze Situationen beschränken. Marija (die Großmutter), Orysja (die Mutter) und Daryna (die noch schulpflichtige Tochter) leben als Geflüchtete in Deutschland und haben unterschiedliche Strategien (wohl auch unterschiedliche Fähigkeiten), mit dem Verlust der Heimat umzugehen. Oma (Ines Krug) versucht es mit Verdrängung, sorgt durch alltägliche Gesprächsthemen für eine Versachlichung der Stimmung - und verwechselt schon mal die Richtungen in der neuen Wohnung. Dann bekommt der Panzer der Verdrängung Risse und gibt den Blick auf die darunter liegende Verstörung frei. Fehlt dem Kater die Stabilität, so fehlt ihr im neuen Land die Orientierung. - Bei Orysja (Sabine Osthoff) mag es eine Mischung aus Verdrängung und hoffnungsvollem Optimismus sein, wenn sie von Deutschland aus die Renovierung ihrer ukrainischen Wohnung organisiert. Und die heranwachsende Daryna ist einsam - ob aus Verschlossenheit vor der neuen Kultur oder weil ihre Mitschülerinnen sie nicht verstehen, bleibt unklar. Nach Hause, zurück in die Ukraine, wollen alle. Aber besser ist, man versucht sich mit der neuen Situation zu arrangieren.
Der soziale Status, den die drei Geflüchteten in Deutschland genießen respektive zuvor in der Ukraine genossen haben, wird nicht so recht verortet; mit Ausnahme eines satirischen Auftritts von Bundeskanzler Olaf Scholz bleiben auch politische Statements im Hinblick auf die Unterstützung der Geflüchteten und ihres Heimatlandes durch den Westen weitgehend außen vor. Ohnehin neigt die Inszenierung von Andreas Merz-Raykov und die Ausstattung von Veronika Bleffert dazu, nicht zu dramatisieren und die einzelnen Szenen eher zu unterspielen. Das hat seine Tücken, denn manch bittere Aussage erreicht das Publikum dadurch ein wenig kraftlos. Aber immer wieder gibt es Szenen respektive Figuren, die hängenbleiben: Walik, der von Philipp Noack gespielte Familienvater, ist so eine Figur: Als wehrfähiger Mann ist er pflichtgemäß in der Ukraine zurückgeblieben. Doch in der Realität sitzt er Hause in seiner Wohnung und versteckt sich aus Angst vor einem Kriegseinsatz. Daryna gegenüber tritt er jedoch per Zoom als patriotischer Frontkämpfer auf. Als die Tochter ihm gegenüber irritiert bemerkt, dass Patriotismus in ihrer neuen deutschen Heimat nicht allzu populär sei, findet Walik zu einer bedenkenswerten Überlegung: Eine solche Haltung sei ein Zeichen für ein erfolgreiches Land, meint er: „Ich sehne mich nach einer Zeit, in der Patriotismus nicht mehr notwendig ist.“
Tochter Daryna, sehr glaubwürdig verkörpert von Beritan Balci, wird von furchtbaren Alpträumen heimgesucht, die von Bombenangriffen und Folterungen handeln. Wie banal sind dagegen die Ängste und Sorgen der Bevölkerung im Westen: Völlig unempathisch jammert Darynas deutsche Klassenkameradin, die sich auf einen Klassenausflug in die Alpen freut, über ihre und ihres Vaters Angst vor den Gefahren des Skifahrens. Lene Dax, die diese Klassenkameradin spielt, gibt auch eine Verkäuferin von Badausstattungen, die Orysja scheinbar mit russophilen Argumenten konfrontiert, tatsächlich aber nur den wirtschaftlichen Erfolg ihres mit Russland kooperierenden Unternehmens im Auge hat. Da ist sie dann doch, die mangelnde Sensibilität vieler Zeitgenossen gegenüber den Menschen, die vor einem krass völkerrechtswidrig agierenden Aggressor Schutz in Westeuropa suchen.
Viele Anklänge an reale Kriegsereignisse holen Bilder in unsere Vorstellung zurück, die wir in den letzten zwei Jahren im Fernsehen sahen. Aber am beeindruckendsten ist die Inszenierung immer dann, wenn inhaltliche oder akustische Kontraste aufeinanderprallen. Die drei ukrainischen Statistinnen singen gemeinsam mit den Schauspielerinnen wunderschöne melodische Volkslieder - und dann hören wir wieder die Kriegsgeräusche, die Explosionen, die Bombeneinschläge. Blickt man gen Osten und auf die unschlüssige deutsche Politik, kann man nur hoffen, dass nicht auch die Ukraine in einigen Jahren Non-existent ist.