Fallhöhe im Gebirge
„Unglückliche Bergsteiger sind sehr gefährdet“, weiß Bergsteiger A, verkörpert von Daniel Breitfelder. Also macht er sich glücklich. Wie B und C (Markus J. Bachmann und Johanna Pausacker) kraxelt er durch die Bergwelt der Alpen, vom Mont Blanc bis zu den Dolomiten und zurück - immer unterwegs, immer in Bewegung. Kaum in der Berghütte angekommen, trainiert er auf allen möglichen Folterinstrumenten, die beim Publikum Erinnerungen an die Qualen im heimischen Fitnessstudio wecken. Eine Stunde ist zu diesem Zeitpunkt vorbei in der Aufführung von Teresa Doplers Monte Rosa am Kölner Theater Der Keller. Regisseurin Julie Grothgar filtert nun aus der vielschichtigen Komödie ein kurioses, im Grunde tieftrauriges homoerotisches Beziehungsdrama heraus: Bachmann und Breitfelder suchen einen Partner zum Besteigen. Jaja, vor allem zum Bergsteigen, aber eigentlich wohl für mehr. Es ist wie im richtigen Leben: Jung soll er sein, topfit. Denn warum braucht man im Leben einen Partner? Doch nicht für so etwas Flüchtiges wie die Liebe, oder?
Nein, nicht für die Liebe, sondern um Seilschaften zu bilden! Ohne Seilschaften nach oben zu kommen - das ist ein harter Weg. Ohne Seilschaften ist man einsam auf dem Weg zum Gipfel - am Monte-Rosa-Massiv und im Beruf, in den Dolomiten und im Leben. Ein Partner muss stark genug sein, um einen im Notfall tragen zu können - und sensibel genug, um die Schwächen des Partners nicht anzusprechen. In der Liebe wie am Berg wird die Partnersuche zur Fleischbeschau: Breitfelder trainiert, Breitfelder zeigt seine Muckis. Die Bergsteiger prahlen mit allem, was sie haben - und was sie vorgeben zu sein und zu können. Gar so jung wie sie sich geben, sind sie nicht. All das Kabarettistische, das die Inszenierung zuvor ausgezeichnet hatte, kollabiert in einer wahrhaft tragischen Szene. Breitfelder trainiert, und Markus Bachmann, vielleicht sein Wunschpartner auf der Strecke und im Leben, schaut zu, wie er sich abmüht: emotionslos, kerzengerade, in einer Art Uniform, die vorübergehend Gedanken an faschistische Soldaten weckt. Kalt wirkt Bachmann da, so kalt wie das Eis des Gletschers im Januar droben im Gebirg, kurz bevor der ersehnte Gipfel erreicht ist. Den 20. Jänner ging Lenz ins Gebirg. Wie Lenz leidet zumindest A, die Breitfelder-Figur, leiden aber vielleicht auch die anderen an einer ausgewachsenen Depression.
Matthias Rippert hatte vor zwei Jahren am Schauspiel Hannover eine sehr subtile Deutsche Erstaufführung von Doplers Stück herausgebracht, die vielschichtige Interpretationen zuließ (siehe hier). Das Subtile ist Julie Grothgars Sache am Theater Der Keller nicht. Grothgars Bergsteiger sind schrille Karikaturen, Clowns mit marionettenhaften Bewegungen und übertriebener Gestik, fratzenhaft überzeichnet. Nacheinander schälen sie sich aus dem Bergsteigerzelt oder kommen von hinten auf die Bühne gestolpert: Bachmann mit extrem blondierter Perücke, Pausacker in Leopardenfell-Hose und mit Bergsteiger-Sonnenbrille, Breitfelder in roter Jacke und mit wirrem, langem schwarzen Perückenhaar und zotteliger brauner Fake-Pelz-Stola. Natürlich wird sich bald herausstellen, dass das überzogene Outfit dazu dient, das Alter und die Glatzköpfigkeit vor allem der Männer zu kaschieren. Banal und unkonkret sind die Gespräche - da fühlen auch wir im Publikum uns ertappt, wenn wir an unsere tapsigen Kontaktversuche denken in Situationen, in denen wir auf völlig Unbekannte treffen. Unterwegs war es dunstig - das ist das Einzige, was wir an Konkretem aus den ersten Gesprächen der Bergsteiger untereinander erfahren. Wir ahnen noch nicht, dass dieser Dunst längst ihre Seelen vernebelt.
Schon gibt es die ersten Sticheleien: A will gesehen haben, wie B am Hang ins Rutschen gekommen ist, und B erzählt maliziös, dass er unterwegs einen Helm gefunden hat (natürlich A’s). Peinlich: Denn eigentlich versichern sich beide (Pausackers „C“ in geringerem Umfang als die beiden Männer) permanent gegenseitig mit Worten und Taten ihrer Souveränität und Überlegenheit. Sie protzen mit ihrer Kondition, ihrer ewigen Jugend, ihren Glücksgefühlen. Machohaft tragen sie ihre Hahnenkämpfe aus; lächerlich wirkt ihr gockelhaftes Verhalten, ihr Imponiergehabe, ihr wiederholtes Muskelspiel. Es wird viel gelacht im Publikum. Doch kippt die Comedy irgendwann ins Makabre, wenn klar wird, dass B einen sterbenden Kameraden zurückgelassen hat, um einen eigenen Aufstieg nicht zu gefährden. Die Parabel auf das Verhalten der Alphatiere im Berufsleben kommt einem wieder in den Sinn. Die Humanität dieser drei Figuren, ihr menschliches Ich ist längst in einer Gletscherspalte eingefroren.
Aber es sehnt sich nach Wärme und Erlösung, wie sich nach einer Stunde zeigen wird. Dann beginnt das doppelbödige Gespräch über die Partnersuche. Und nun zeigt sich: Die slapstick- und comicartige Ästhetik, die der Kenner der subtilen Hannoveraner Deutschen Erstaufführung zunächst bedauert, führt zu einer enormen Fallhöhe - für die Atmosphäre im Stück ebenso wie für die emotional abgestürzten Bergsteiger. Denn irgendwann wird klar: Diese Kameraden der Berge ringen verzweifelt um Anerkennung, sie kämpfen bis zum eigenen Zusammenbruch gegen Einsamkeit und Depression. Niemals darf ihr Kampf zum Stillstand kommen; niemals darf Ruhe einkehren und einen Blick auf das eigene Innenleben ermöglichen. Was man dort erkennen würde, wäre wohl Unglück und Verwüstung. Unglückliche Bergsteiger aber sind sehr gefährdet: Niemals darf es abwärts gehen.
Und doch stehen die Bergsteiger am Ende ganz unten: am Strand. Sie blicken auf ein graues, graues Meer. Wird dort irgendwann die Sonne aufgehen? Oder müssen sie weiter verdrängen, kämpfen für ein eingebildetes Glück?