Übrigens …

Akins Traum im Köln, Schauspiel

Ein verlebendigter Traum

Für einen Moment wird es stockfinster, dann leuchten auf der Bühne unzählige herabhängende Leuchtstoffröhren auf. Werden sie bis zum Boden herabgelassen, bilden ihre Aufhängungen ein Gitter, zwischen dem die Figuren ihren Weg finden müssen, sei es in der geheimnisvollen Welt der vergangenen acht Jahrhunderte oder im glanzlosen Gelsenkirchen von heute.

Eine Gruppe dunkel gekleideter Figuren taucht aus der Finsternis auf: Bettelmönche in der asiatischen Einöde im Jahr 1200 deklamieren Gedanken des islamischen Mystikers Attar, der das Einswerden aller Wesen mit Gott anstrebt in einer Welt, in der für ihn alles spricht. „Die Welt ist schön/sie spricht zu uns/Lebewesen/Gegenstände/Alles spricht zu uns Ideen und Gedanken sprechen/Wir hören sie/ Gott hat die Welt erschaffen, um sich selbst zu kennen/Danke, Danke, Danke, Gott“.

Übergangslos springt das Geschehen in der nächsten Szene aus der mystischen Gebetswelt ins nüchterne Gelsenkirchen des Alter Ego, grandios gegeben von Mehmet Atesci. Während er über seine Resilienz, Erschöpfung und Antriebslosigkeit jammert, macht er sich mit dem E-Roller auf, um bei dm-Drogeriemarkt Feuchttücher zu kaufen. Von diesen Alltagsproblemen wird allerdings nur berichtet, den Roller müssen wir uns vorstellen. Fürs Auge gibt es vor allem wunderbar aufwändige, dekorative Kostüme für all die noch auftretenden historischen Gestalten. Und während wir im Geiste an der Gelsenkirchener Sparkasse und am Ausländeramt vorbeirollern, begegnet dem Alter Ego plötzlich ganz real ein dekoratives Halbpferd (Alexander Angeletta), das im Laufe des Abends immer wieder als Bote aus der Geschichte auftauchen wird. Nebel wirbelt auf und unser Protagonist, der seit längerem nach einem Stoff für seine brachliegende schriftstellerische Arbeit sucht, erhält den Auftrag, als „Auserwählter“ über den Gründungsmythos und die Geschichte des Osmanischen Reiches zu berichten, in dessen Ferne ja auch ein Teil seiner eigenen deutsch-türkischen Ethnie wurzelt.

Bruno Cathomas tritt auf als erster Sultan des Hauses Osman (in fantasievollem Gewand, grandios gegeben). Zunächst noch ein unbedeutender Nomadenhäuptling, wird er später in der Rolle von Bayezid II. ein Riesenreich im Erbfolgestreit zusammenhalten müssen und auch als Suleyman dem erfolgreichsten und letztem bedeutenden Sultan ein würdiges prunkvolles Erscheinungsbild geben. Dann aber als Murad III., der sich mehr für Literatur und Kunst als für Politik interessiert, wird er mit offenem Gewand und nackter Brust den Niedergang des Reiches verkörpern. Zwischen all der Männermacht tauchen auch starke Frauen auf. Vom „Sultanat der Frauen“ im 16./17. Jahrhundert wird berichtet. Da ist Hürrem (überzeugend: Seán McDonagh) in prachtvoller Robe, die in Polen als Christin geboren, von einer Sklavin zur Ehefrau und politischen Beraterin des Sultans aufsteigt.

Von all dem wird vorwiegend berichtet - von wundervoller Live-Musik unter Sven Kaiser begleitet. Ganz gleich, ob Feinde gehäutet, Schiffe gekapert oder Schlachten geschlagen werden, da fließt kein Blut und brechen die Welten nicht im Bild zusammen. Der Traum allerdings begleitet das Geschehen in Menschengestalt durch den Abend (virtuos: Melanie Kretschmann), ganz gleich, ob wir in alten Zeiten oder im heutigen Gelsenkirchen sind, zwei Welten, zwischen denen Akin Emanuel Sipals märchenhafte Erzählung mit Leichtigkeit und Humor hin und her changiert. Er ist auch dabei, wenn Alter Ego sich am Ende fragt, ob sein Stück vom Osmanischen Traum gut genug geworden ist, um ihn unter die Großen der Gegenwartsliteratur einzureihen. Hilfesuchend ruft er nach Peter Handke und Rainald Goetz. Eine Antwort bleibt vorerst aus.

Im letzten Bild liegen die Leuchtröhren am Boden und „der Traum“ muss mühsam einen Pfad für den Rollstuhl suchen, in dem er die 106jährige Neslisah auf die Bühne schiebt, die vor hundert Jahren ihre Osmanische Heimat verlassen musste und ihr verlorenes Vaterland noch immer liebt. Für die Rolle der alten Dame erhielt Margot Gödrös ganz besonders herzlichen Einzelapplaus.

Auch der gesamte Abend wurde mit begeistertem Applaus bedacht.