Übrigens …

Madame Bovary im Neuss, Rheinisches Landestheater

Schnee, der auf Kakteen fällt

Das Büro der Landestheater in NRW startete in 2023 eine Publikumsumfrage zu den Erwartungen der Menschen an einen Theaterbesuch. Das Ergebnis war so niederschmetternd wie erwartbar: In erster Linie, so legte das Resultat der Umfrage nahe, erwarten die Theaterbesucher „Unterhaltung“. Will das Volk also Kunstgewerbe statt Kunst? Nur Boulevard-Theater?

Natürlich nicht. Erstens wurden auch weniger theateraffine Menschen befragt, was das Ergebnis verfälscht haben dürfte. Zweitens ist „Unterhaltung“ vermutlich der Begriff, der den meisten Leuten als erstes einfällt, wenn man an wie auch immer geartete passive Freizeitgestaltungen denkt. Selbstverständlich muss Kunst weh tun dürfen, zum Nachdenken anregen. Sie darf auch einmal provozieren. Das Publikum der Stadt- und Landestheater weiß das auch - mit Flachsinn ist es selten zufrieden. Das Rheinische Landestheater Neuss dagegen ließ damals sinngemäß verlauten, man wolle sich künftig an dem o. a. Publikumswunsch orientieren. Nun gibt es zweifellos auch hochintelligente Unterhaltung, aber die Zeit, in der das Landestheater Neuss gelegentlich mit sperrigen, anspruchsvollen Inszenierungen den renommierten Häusern in den Großstädten Paroli bieten konnte, schien vorerst vorbei.

So kann es nicht überraschen, dass Boris C. Motzkis Inszenierung von Gustave Flauberts Madame Bovary in Neuss auf einer großen Showbühne spielt. Vor allem in den ersten 45 Minuten wird gesungen, was das Zeug hält: französische Chansons vor allem, von Françoise Hardy und Charles Aznavour, von Lara Fabian, Marie Laforêt und anderen mehr. Figuren wie die des Charles Bovary oder des schmierigen Geschäftsmanns und Wucherers Lheureux werden gnadenlos dem billigen Kabarett geopfert, den Apotheker Homais vergisst man so schnell wie man ihn kennengelernt hat. Das Publikum lacht schon, wenn die entsprechenden Charaktere erstmals die Bühne betreten: Charles in seinem lächerlichen braun-beigen Anzug mit den viel zu großen Karos, Lheureux, der (wie auch Emma Bovarys Vater Rouault) von der armen Anna Sonnenschein gespielt wird, der man einen kleinen Schnurrbart angemalt und ein kleines Bäuchlein verpasst hat und die chargieren muss wie in einer 60er-Jahre-Comedy. Sie alle verkörpern respektable, von Flaubert durchaus differenziert beschriebene Charaktere. Der etwas einfach gestrickte, recht spießige Charles liebt seine Frau bis zum Schluss, ist aber viel zu phantasiearm, um ihr so viel Abwechslung und Esprit bieten zu können wie sie sich von einem Eheleben mit Herrn Doktor erwartet hat. Der Händler Lheureux ist ein geschickter Geschäftemacher, der mit sicherem Gespür erkennt, dass Emma Bovary für jeden Luxus empfänglich ist, und sich mitleidlos auf sein Opfer stürzt. Auch der Apotheker Homais, der zum Freund der Familie wird, neigt zwar zur Hochstapelei (und gegenüber dem Doktor zu einer „kriecherischen Herzlichkeit“), aber er ist durchaus eine differenzierte Persönlichkeit. In Neuss werden sie alle zu Witzfiguren degradiert, ohne dass die Schauspieler daraus wirklich Funken schlagen. Die Einzige, die die Karikatur beherrscht und mit dieser Rollenzeichnung umgehen kann, ist das langjährige Neusser Ensemble-Mitglied Hergard Engert, die Charles‘ Mutter mit knappen, gouvernantenhaften Auftritten und spitzzüngigen Reaktionen pointiert über die Rampe bringt. Ihre Vorbehalte gegen ihre Schwiegertochter, resultierend aus einer puritanischen Lebenseinstellung, sind, wie sich herausstellen wird, ja auch nicht ganz aus der Luft gegriffen. - Madame Bovary nimmt sich angesichts solcher Entourage nachvollziehbarerweise den einen oder anderen Liebhaber, und Philippe Ledun gelingt es immerhin, dem fast ausschließlich zweideutig kommunizierenden Rodolphe und dem jungen Leon ein wenig Zynismus respektive Schwung zu verleihen.

Zwischendurch wird ein wenig intellektualisiert; es werden die Absichten des Autors angesprochen, es werden flüchtig Bezüge zu Anna Karenina, Jane Eyre, Molly Bloom und sogar Annie Ernaux hergestellt, von denen Emma Züge in sich zu entdecken glaubt. Da ist was dran. So ganz oberflächlich ist die Inszenierung doch nicht, denkt man, und konsequenterweise schleicht sich daher der Gedanke ein, dass auch die Typenparade papierener Gecken auf einem dramaturgischen Konzept beruhen könnte. Möglicherweise hat sie das Ziel, eine Fallhöhe zur Figur der Madame Bovary herzustellen. Trotz der erwähnten Vorbehalte haben wir es am Rheinischen Landestheater nämlich nicht mit einer schauspielerisch misslungenen Aufführung zu tun: Es gibt ja noch die Titelfigur. Eine phantastische Katrin Hauptmann rettet den Abend im Alleingang. Manchmal karikiert auch sie, aber dann sind ihre Karikaturen voller Selbstironie. Ab und an lauscht sie der Sprache Flauberts nach; eine differenzierte, vielseitige Gestik und Mimik unterscheidet sie von Beginn an vom Gestus der übrigen Figuren. Zunehmend entwickelt sie ihre Emma zu einer facettenreichen Persönlichkeit zwischen Melancholie, Schwärmerei und Anfälligkeit für Kitsch.

Und singen kann sie! Wunderbar zart zu Beginn, ergreifend kraftvoll am Ende ist ihre Interpretation von Lara Fabians „Je suis malade“ (hierzulande besser in der von Dalida gesungenen Version bekannt). Malad ist sie, weil ihre Sehnsüchte nicht erfüllt werden, die nach Abwechslung und einem interessanten Leben in der Oberklasse nicht und die nach romantischer Liebe auch nicht. Zerbrechlich sei sie, sagt Gatte Charles über sie, aber besser noch trifft seine Aussage, sie habe „November im Herzen“. Hunger auf das Leben, Sehnsucht nach echter Liebe - und wohl auch eine Hingezogenheit zum Tod zeichnen sie aus: „Ich wollte immer zugleich sterben und in Paris leben“, wiederholt sie mehrfach. Charles dagegen bietet ihr nur „Langeweile und Beischlaf - Letzterer unaufregend.“

Und so fliegen Katrin Hauptmanns Emma aller Verschwendungssucht und aller Naivität bei der Hingabe an die sie sexuell ausbeutenden Männer zum Trotz die Herzen zu, und etwas von dieser Zuneigung bleibt auch an Boris C. Motzkis Inszenierung hängen. Hauptmann macht die Aufführung zum Requiem für eine romantische Frau - mit November im Herzen. Emma spricht lieber von „Eiszeit“: Im langen roten Showkleid hatte sie den Abend mit einem Song der wunderbaren Marie Laforêt eröffnet: „Il a neigé sur yesterday…“. Einmal nur hätte es schneien müssen, träumt Emma, einmal hätte sie gern Schnee auf ihre Kakteen fallen sehen. Ihr Wunsch wird am Ende erfüllt. Ihre der Depression und dem Liebesdefizit geschuldete Verschwendungssucht und ihre Liebschaften werden entdeckt; Lheureux treibt sie und damit auch ihren nichtsahnenden Mann in den Ruin. Emma nimmt Arsen. Und weich fällt der Schnee. Adieu, Emma, schön war’s mit Dir auf dem Boulevard.