Das große Lachen
Ein weißer Gazevorhang vor der Bühne könnte darauf hinweisen, dass es um eine Hochzeit geht. Und tatsächlich schwingt sich zu einem Trompetenstoß eine weiß verschleierte Figur mit Tüllschleppe auf die Vorderbühne, wendet sich direkt ans Publikum, lüftet den Schleier, stellt sich „für alle, die (sie) noch nicht kennen, als Influencerin Joy“ vor, erklärt die Leute im Saal schlichtweg zu ihren Followern und „pre-enacted“ hier und jetzt ihre Trauung.
Vorweg erfahren wir, dass sie sich bisher auf Social Media als „stay at home girlfriend“ inszeniert, dass ihr „Content die Themen Selfcare, Cleaning, Cooking“ umfasst, jetzt aber mit „Wedding“ das nächste Level freigeschaltet wird. Auf Deutsch: das Heimchen am Herd als Rollenbild, das wir eigentlich für überholt hielten. Joy selbst (eindrucksvoll: Carolina Braun) lebt allerdings nicht danach, wir erleben sie als aktive, einsatzfreudige junge Frau, die die Möglichkeiten nutzt, die ihr das moderne Leben bietet: sie reagiert auf eine Nachfrage und sichert so ihren Lebensunterhalt.
Für die perfekte Hochzeits-Inszenierung braucht’s in diesem Sinne den Vater, der die Braut zum Altar führt. Und hier berührt sich die Welt der Influencerin mit der Welt des Clowns, die uns im Titel irgendwie angekündigt wird, soweit sie auch zunächst auseinanderzuliegen scheinen. Joys Vater hat vor Jahren die Familie verlassen, um sich seinem großen Traum, dem Leben als Clown zu widmen. Dabei geht es nicht schlichtweg um einen Beruf, nicht um das Klischee des weißgeschminkten Tölpels in oversized Klamotten. Charlotte Lorenz und Jakob D’April entwerfen vielmehr eine geistige Clowns- Welt, vielleicht eine Lebens-Kunst, eine Daseinsform.
Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf das geheimnisvolle Clowns-Haus, in dem der Vater mit drei Gleichgesinnten lebt, auf die Joy auf dem Vorhof trifft. Ein bunter, facettenreicher Anblick. Schon bei der ersten Begegnung wird deutlich, dass diese Drei - sowohl als Menschen wie auch als Clowns - völlig unterschiedliche Charaktere verkörpern, was auch in der fantasievollen Kostümierung sichtbar wird.
Da ist zunächst schlank und rank der leicht überhebliche Severin Le Magnifique, der damit kokettiert, die renommierte Clownsschule „Jacques Le Coq“ in Paris besucht zu haben, elegant im Glitzerkostüm gespielt von Jonas Dumke. An seiner Seite, von ihm arrogant befehligt, als „dummer August“ und Clowns-Lehrling der Ex-Wissenschaftler Gelsomino, der seinen Namen in Verehrung der Gelsomina in Fellinis Film La Strada wählte. Luc Schneider gibt diesen naiven Weiß-Clown im Schlabber-Anzug als schüchternen Tölpel ganz wie im traditionellen Zirkus mit herrlichen Stolper- und Ausrutschszenen, bei denen das Publikum den Atem anhält. In manchen Gesprächen blitzt allerdings bei diesem angeblichen Dummerchen der einstige Literaturwissenschaftler auf, etwa wenn er mal kurz auf Walther von der Vogelweide verweist oder ins Mittelhochdeutsche verfällt.
Ganz anders die Revoluzzerin Rine, die mit weit ausladender roter Lockenfrisur und bunter Uniform den Clown als Form des politischen Aktivismus begreift. Temperamentvoll in Szene gesetzt von Stefanie Rösner, weiß sie zu diskutieren und zu protestieren.
Es dauert eine Weile – während der wir, das Publikum, einige „unabsichtliche Absichtlichkeiten“ wie Backpfeifen- und Kampfszenen vorgeführt und erklärt bekommen – bis sich ein Fensterchen im Haus öffnet und ein Schwall Seifenblasen herausschwebt. Dahinter erscheint Joys Vater, als Clown nennt er sich Flip. Kalkweiß geschminkt mit herabgezogenen Mundwinkeln verkörpert Thomas Hamm in ihm den klassischen PierrotTristesse. Doch Flip spielt nicht nur die Rolle des nachdenklichen Melancholikers, sondern versteht sich tatsächlich als einer der Letzten seiner Art. Er befürchtet, dass die „Figur des Clowns als Kunstform, als politischer Funktionsträger, als gesellschaftliche Konstante in fast allen Kulturen“ (so Lucien Strauch in der Einführung) verloren geht. Dieses mögliche Aussterben der Clowns liegt als dunkler Schatten über der Geschichte vom Leben der Clowns. In einem auf dem Gaze-Vorhang abgespielten Live-Video spricht Flip im Gespräch mit Rine das bedrohliche Wort zum ersten Mal aus: Das Große Lachen, das Tot-Lachen.
Joy, die Business-Frau, erkennt die materielle Not der Gruppe und bietet Lösungen an: vom Kindergeburtstag bis zu Social Media. In einer rührenden Szene versucht sich der stolze Severin als Küchen-Clown im Internet, was schon an der Tatsache scheitern muss, dass bei der Kochvorführung nichts im Kühlschrank zu finden ist als eine Zwiebel und eine Stange Sellerie. Eine Szene zum Lachen und Weinen, die auch auf zwei Monitoren vorne im Saal übertragen wird. Doch Joys Vorschläge kommen nicht an, sie stehen unter Kapitalismusverdacht oder scheitern am Selbstverständnis der Künstlergruppe. Sie halten einander den Spiegel vor, finden aber keine Nische für die „Happy Loser“ in der modernen Welt. Während Joy sich am Ende eine Clownsnase aufsetzt und die stets auf das Gegenteil ausgerichtete Clownswelt zu erproben scheint, bleibt den Happy Losern nur das mehrfach angekündigte Große Lachen. Flip gibt das Startzeichen.
Eine Projektion zeigt, wie die Gruppe durch dunkle Kellergänge das Haus verlässt. Sie nähern sich einem Platz, beginnen zu lachen, krümmen sich vor Lachen, stürzen auf einen Haufen übereinander. Sie haben sich totgelacht. Dem Publikum aber bleibt das Lachen im Halse stecken.
Dann gibt es herzlichen Applaus für eine überzeugende schauspielerische Leistung und ein anregendes Stück. Am Ausgang gibt’s vom tollpatschigen Gelsomino eine rote Clownsnase für jeden, eine clowneske Aufforderung an uns, den Clown in uns selbst zu entdecken.
In der Einführung erfuhren wir, dass es sich bei der Aufführung um eine „Stückentwicklung“ handelt. Das Duo Lorenz und D‘Aprile setzte das Thema Clown, das dann nach extensiver Recherche im regen Austausch mit dem Ensemble entstand - ein erfreuliches Ergebnis.