Übrigens …

Woyzeck im Bonn, Theater

Von „unterste Stuf von menschliche Geschlecht“ gefallen

Da läuft er denn auf und ab, in müdem Stechschritt wie eine Wache vor dem Schloss: Paul Michael Stiehler als Woyzeck. Die Welt erwacht: Margarethe öffnet ihre Kiosk-Bude, die Ärztin klappt vor dem zweistöckigen Haus die Liege aus; in der oberen Etage machen sich Woyzeck und Marie zu schaffen. Grau ist diese Welt und ärmlich, aber wenn der neue Morgen anbricht, könnte sie so unaufgeregt sein, im besten Sinne spießig. Doch kaum ist der Kiosk hergerichtet, hebt Birte Schreins Margarethe an zu Büchners menschenverachtendem Marktschreier-Monolog: „Sehn sie die Kreatur, die Gott gemacht hat … Der Aff‘ ist Soldat … unterste Stuf von menschliche Geschlecht.“ Auch wenn er gar nicht gemeint ist (zumindest nicht bei Büchner), beziehen wir das demütigende Ausstellen der Kreatur automatisch auf den Soldaten Franz: auf Woyzeck. Tatsächlich wird er ja von Frau Doktor, die ihn aus wissenschaftlichem Interesse als Versuchsobjekt missbraucht, und vom Hauptmann, den er zu dessen unflätigem Gerede rasieren muss, wie ein dressierter Affe behandelt. Margarethe, das werden wir bald lernen, klagt die Gesellschaft an.

Regisseurin Sarah Kurze sucht einen neuen Sinn in Büchners Rätseln. Sie hat die Szenen des Fragments, deren vom Autor gewünschte Reihenfolge man ohnehin nicht kennt, gegenüber der üblichen Lesart umgestellt und blickt zunächst auf Woyzecks demütigendes Alltagsleben: Julia Kathinka Philippi, die wir gerade noch als so charmantes, etwas naives Girlie Paula auf der Bonner Bühne gesehen hatten (siehe hier), kann auch ganz schön fies: Tough, vor allem aber zynisch und böse kommandiert sie ihr Versuchskaninchen herum und hat vielleicht in der ungeliebten Abgeschiedenheit einer Kleinstadt noch Rest-Ambitionen auf einen Aufstieg und ein Ausbrechen in eine lebenswertere Umgebung. Nur in der Spielart, nicht in der Intensität des Zynismus unterscheidet sie sich damit vom Hauptmann (Alois Reinhardt), der seinen Friseur Woyzeck sinnlos schikaniert und mit geradezu apokalyptischen Prognosen bezüglich seiner Gesundheit zu quälen versucht. Sandrine Zenner ist ihrem Franz eine recht heutige, hübsche und vergleichsweise intelligente Marie - mit ihrer Empathie und ihrer Zugewandtheit zur Familie ist es aber auch nicht weit her. Sie ist es, die recht früh ihrem kleinen Kind das berühmte Großmutter-Märchen von der untergehenden, umgestürzten Erde und dem nicht existenten Weltall erzählt und die dem eigenen Kind den Apfel wegfuttert - Mangelernährung ist offensichtlich ein Thema der ganzen, am Existenzminimum lebenden Familie. Woyzecks Freund Andres (Riccardo Ferreira) hat ungewöhnlich lange Bühnenpräsenz. Aber eine echte, partnerschaftliche Kommunikation zwischen den Freunden ist kaum zu beobachten. Woyzeck ist vereinsamt, isoliert, tritt wenig in emotionalen Kontakt mit seiner Umwelt. Er bleibt stoisch: „Still, alles still, als wär die Welt tot“ - die Worte, die er bei Büchner nach dem Mord an Marie spricht, fallen schon früh.

Tot sind offenbar weite Regionen in seinem Gehirn, krank ist sein Gefühlsleben. Dass es nicht zuletzt seine soziale Situation ist, die ihn krank gemacht hat (oder durch die er zumindest gehindert ist, Hilfe zu finden), deutet Sarah Kurzes Inszenierung wiederholt an. Margarethe, bei Büchner eine (im Theater oft gestrichene) Nebenfigur, ist die Klassenkämpferin in Kurzes Inszenierung. Ihr gehören die Sätze über die „Fettwänste“ der Reichen, die „es nicht nötig“ haben, sich zu verändern: „Spitzbuben, man muss sie totschlagen“ nennt Margarethe sie. Wird da eine in der gegenwärtigen politischen Diskussion eher gefährliche Neiddebatte bedient, ein unterkomplexer klassenkämpferischer Reflex? Vielleicht, aber es passt zu Kurzes Inszenierung, die letztlich allerdings weniger zum Umsturz aufruft als dass sie sich mit den psychologischen Auswirkungen von Armut und Ausgrenzung beschäftigt.

Wenn man etwas an Paul Michael Stiehlers intensivem Spiel aussetzen kann, so ist es wohl, dass es dem Schauspieler nicht immer gelingt, die Leere ins Gesicht zu bekommen, die in Woyzecks Innerem herrscht. Aber auch dafür kann man eine Begründung finden: Am Kiosk diskutiert Woyzeck mit Margarethe das Thema Gewalt, und der Soldat, der sich auf die unterste Stuf von menschliche Geschlecht hinabgeworfen fühlt, räsoniert: „Gewalt - verfügen wir nicht über andere Mittel des Widerstands?“  Er philosophiert, wenn auch auf einfache, etwas naive Weise, über das Menschsein, über Gottes Schöpfung. Woyzeck hat - und diese Erkenntnis hat Regisseurin Sarah Kurze keineswegs für sich allein - durchaus Potenzial. Aber das wird unterdrückt von seiner sozialen Situation, seiner Krankheit und seiner unwürdigen Behandlung durch primitive, von sadistischen Neigungen geleitete Menschen, die durch welchen biografischen Zufall auch immer über ihm stehen.

Ob gewollt oder nicht: Wirkmächtiger als das Sozialdrama ist in Kurzes Inszenierung der Blick auf die psychischen Zerstörungen Woyzecks. Ist dieser zu Beginn noch nur ein vereinsamter, verängstigter, in die Isolation getriebener Mensch, so zieht Kurze die Schraube immer fester an. „Immerzu, immerzu“, wiederholt Woyzeck auf seinen Runden durch den fiktiven Kasernenhof, immerzu und immer stärker quälen ihn seine Alpträume, quält ihn seine Geisteskrankheit. In seinem kranken Kopf wird er pantomimisch verhöhnt, wird er „immerzu“ angetrieben und gehetzt. Das „Fieber im Kopf“ äußert sich in Stromschlägen; mehrfach kauft er sich ein Messer, wobei unklar bleibt, ob er das Messer im Kopf oder mordbereit in der Hand hat. Ein Suizidversuch schlägt fehl - oder ist es eine alternative Erzählung, die später durch die Büchner’sche mit dem Mord an Marie ersetzt wird? Die Musik von Samuel Wiese wird zum großartigem, jetzt oftmals kakophonischen Sound und begleitet die Eskalation in Woyzecks Kopf auf kongeniale Weise. Flirrende Geräusche, zuckende Blitze begleiten den Mord; das Wohnhaus von Marie und Woyzeck hebt ab vom Boden und schwebt in der Luft. Woyzeck hört erneut die Stimmen der jüngeren Vergangenheit, die Stimmen der Menschen, die er nicht mehr ertragen hat. Alle Figuren des Stücks geraten aus ihrer natürlichen Bahn; vollführen choreografische Bewegungen auf der Bühne. Nur Margarethe putzt ungerührt ihren Kiosk.

Und erschießt den Hauptmann und die Ärztin. Margarethe ist es nun, die noch einmal das Märchen der Großmutter erzählt, vom Mond, der nur noch ein Stück faul Holz ist, von der Sonn und den Sternen, die nur noch ein verreckt Sonnenblum und kleine goldene Mück‘ sind, und von der Erde, die sich bei der Rückkehr des Sternenfahrers nur noch als umgestürzter Hafen entpuppt. Und wer sich da hingesetzt und geweint hat und war ganz allein, das ist in dieser berührenden Erzählung der Margarethe unzweideutig der verrückte, vereinsamte, von den Mitmenschen ausgestoßene Woyzeck. - Grandios!