Eine Geschichte prachtvoll mit Wortleichen erzählt
Wer den Text gelesen hat – es handelt sich ja um einen modernen Klassiker, der 1950 in Paris zur Uraufführung kam – wer also die lange Regieanweisung, die Ionesco dem Stück vorangestellt hat, kennt, der erwartet „ein gutbürgerliches englisches Interieur mit englischen Fauteuils“ auf der Bühne und vieles „Englisches“ mehr: gleich sechzehnmal wird speziell Englisches aufgelistet. Doch auf der nüchternen Bochumer Bühne ist nichts von all dem zu sehen: auf weißem Boden stehen acht graue Metallbetten, wie man sie vielleicht aus Lazarettfilmen kennt, nur eines davon enthält Bettzeug.. Auf der schwarzen Rückwand zeigen vier schmucklose, rechteckige Uhren unterschiedliche Zeiten an. Während sich der Saal füllt, nehmen in der ersten Reihe auffallend bunt gekleidete Figuren Platz, begrüßen sich untereinander mit Küsschen-Küsschen und schauen ab und an interessiert ins Publikum.
Dann steht eine von ihnen auf: Eine Lady in knallrotem Kleid, das, wie man später sehen wird, bis oben geschlitzt ist und eine meterlange Schleppe hinter sich her zieht. Sie dreht sich zum Publikum und beginnt genüsslich etwas aus einem Glas zu löffeln, vielleicht eine Portion „rumänischen Folkloreyoghurt“, von dem sie später, wenn das Gläschen leer ist, schwärmen wird. (Mag man nehmen als kleine Reminiszenz Ionescos an sein Geburtsland Rumänien.) Vorerst schauen wir ihr beim Löffeln zu. Als sie fertig ist, steigt sie auf die Bühne und beginnt zu quasseln: dass sie gut gegessen habe, weil sie „ in der Umgebung von London wohne und Smith“ heiße. (herrlich temperamentvoll: Stacian Jackson). Irgendwann stolpert auch ihr Mann, Mr. Smith in blau-petrolem Samtanzug auf die Bühne (etwas vertrottelt, doch jederzeit wunderbar präsent: Stefan Hunstein), beide hocken sich auf eines der Betten, nehmen aber vorerst keinerlei Kontakt zueinander auf. Erst wenn es darum geht, ob die Witwe Bobby Watson hübsch sei oder nicht, gibt’s einen heftigen Streit um Nichts, dabei fällt die Bemerkung, dass Mrs Watson Gesangslehrerin sei. Die Vermutung, dass hier eine Spur zur Kahlen Sängerin gelegt werden könnte, bewahrheitet sich nicht. Die Titelfigur taucht weder persönlich in dem Sechs-Personen-Stück auf, noch, wird sie im Text irgendwann erwähnt, bis auf die völlig zusammenhanglose Frage eines Gastes in der zehnten Szene: „Was macht die kahle Sängerin?“ und die nach „betretenem Schweigen“ und dramatischer Pause gegebene Antwort: „Sie trägt immer noch die gleiche Frisur.“
Doch noch sind wir am Ende der ersten Szene, in der das Geplapper um Bagatellen geht, die keinen interessieren. Ein kleines Kunststück bourgeoiser Gesprächsunfähigkeit. Bis das Wort „Nonsens“ fällt, ein Wort, das das Motto des Stücks sein könnte, hier aber als Zeitungskritik gemeint ist, die „ in den Zivilstandsnachrichten immer nur das Alter der Toten nie der Neugeborenen“ angibt.
Dann taucht das Dienstmädchen Mary aus dem Kellerloch auf, zunächst devot gebeugt, dann immer aufrechter als stattlicher Mann in lila Samt- und- Leder- Outfit (höchst komödiantisch gegeben von Konstantin Bühler). Sie schwenkt eine Bettpfanne mit gelbem Boden (wohl um zurückliegenden Gebrauch anzudeuten). Tatsächlich wird auch irgendwann im Laufe des Spiels einer der Herren mit nacktem Po so tun als ob.
Die Uhren, die schon ein paarmal wirr geschlagen haben, zeigen inzwischen als Monitor alte Videos, dabei auch mal Werbung für Persil oder Afri-Cola und aus dem Off tönt fast vergessene Musik, darunter ein Chanson von Charles Aznavour .
Irgendwann sind die Martins da: er in grellgelbem Anzug, sie in bravem lindgrünen Hängerchen. Und wie ein eigener Sketch im Stück beginnt ihr Nonsens-Wiederentdecken, indem sie sich auf einer Stufe sitzend annähern und wieder entfernen, am Ende jedoch sicher sind, ein Ehepaar mit gemeinsamem Kind zu sein. „Sie sind meine eigene Gattin. Elisabeth, ich habe dich wieder…Vergessen wir alles, Darling, was zwischen uns nicht gewesen ist.“ Küsschen, Küsschen, überhaupt wird viel und flüchtig geküsst in diesem Stück. Jele Brückner und Marius Huth spielen diese Szene lustvoll aus, halten sich keineswegs an Ionescos Regieanweisung, den „Dialog mit schleppender, gleichförmiger, leicht singender Stimme, ohne Nuancen“ vorzutragen. Wenn Mary anschließend in einer ausführlichen Beweisführung zu widerlegen scheint, dass die beiden eben doch keine gemeinsame Tochter haben und somit auch nicht Elisabeth und Donald Martin sein können, so ändert das nichts am Fortgang des Geschehens. Interessant ist allerdings, dass die Beweisführung, die im Stück das Dienstmädchen Mary in einem Monolog führt, der mit dem überraschenden Satz endet: „Mein wahrer Name ist Sherlock Holmes“, in Bochum ziemlich eindeutig vom Detektiv selbst gesprochen wird. Der Regisseur Johan Simons nimmt der Szene, die vom Autor zweifellos gewollte Absurdität, indem er Holmes mit Kappe und Pfeife auftreten lässt.
Inzwischen sind auch die Smiths wieder auf der Bühne und die Nonsens-Alltagsgeschichten werden von einer weiteren Sketcheinlage um das Klingeln und vergebliche Türöffnen unterbrochen, bei der es zu einer handfesten Prügelei kommt, bevor ein weiterer Gast - im Stück der Feuerwehrhauptmann, in Bochum eine Feuerwehrhauptfrau - erscheint, die unbedingt nach einem Brand sucht, „wenigstens einen ganz kleinen Ansatz zu einer Feuersbrunst“, mit dem allerdings nicht gedient werden kann. Unterdessen ödet man sich mit völlig sinnleeren Geschichten an, die zum Teil etwas klamaukig daherkommen, bis die Feuerwehrhauptfrau (völlig emotionslos in heutiger Uniform von Danai Chatzipetrou gegeben) mit ihrer Geschichte „Der Schnupfen“ beginnt. Sie bringt sich vorm Publikum in Stellung und beginnt – diesmal tatsächlich „mit schleppender, gleichförmiger Stimme ohne Nuancen“ - einen endlosen, völlig irren und verwirrenden Familienstammbaum zu referieren, an dessen monotonem Ende dann die Großmutter eines Pfarrers im Winter manchmal „einen großen Schnupfen bekam“. Dafür gibt’s Szenenapplaus. Grandios, wie die anderen diesen monotonen Blödsinn in höchster Erregung verfolgen, als ginge es gerade um Leben und Tod. Ganz großes Schauspiel!
In der neunten Szene (von elf) kommt dann zur Tragödie der Sprache (Ionesco) noch eine diesmal ganz ernst gemeinte Gesellschaftskritik, als Mary sich der Gruppe zugesellen will, um „ebenfalls eine Anekdote zu erzählen“. Sie wird als „Dienstmädchen ohne die nötige Bildung“, das verrückt geworden und „am falschen Platz“ sei, beschimpft, bis sie sich der/dem Feuerwehrhauptfrau/mann als dessen „erste Flamme …um den Hals wirft.“ Interessant, dass Mary in dieser Szene ein bodenlanges, glitzerndes Festkleid mit passender Kopfbedeckung trägt: ein verstecktes Kostüm-Spiel mit der Titelfigur?
In der letzten Szene kommt es dann zur endgültigen Sprachauflösung: nicht nur der Sinn geht verloren, verliert sich in Absurditäten, auch die Wörter lösen sich auf, die „Wortleichen“ ( Ionesco) zerfallen in reine Kakophonie, man wirft nur noch mit Buchstaben um sich, tobt ein bisschen unsinnig über die Bettgestelle, bis die vier Protagonisten schließlich auf einem Bett zusammengekauert zu sakraler Musik - zum ersten Mal gemeinsam im Chor - brüllend endlos wiederholen : „Es ist nicht dort, es ist da!“ (Im Original: „C‘est pas par là, c’est par ici!) Damit ist in Bochum Schluss, im Original fängt danach – während der Vorhang fällt – alles von vorne an. Johan Simon bringt mit sechs grandiosen Komödiant*innen mit Ionescos Tragödie derSprache ein höchst interessiertes Publikum neben mancher schmunzelnden Selbsterkenntnis zu herzhaftem Gelächter und begeistertem Applaus.
In seiner Schrift Argumente und Gegenargumente erklärt der Autor zu seinem Stück: DieSmiths, die Martins können nicht mehr miteinander reden, weil sie nicht mehr denken können, sie können nicht mehr denken, weil sie nichts mehr bewegen kann. Johan Simons und sein Ensemble geben der gedanklichen Bewegungslosigkeit eine fulminante Körperlichkeit und machen aus der Tragödie eine turbulente, abstruse Komödie, ohne dabei die Öde und Sprachlosigkeit der kritisierten Bourgeoisie zu überdecken.
Interessant ist dabei, dass manche der Sprachhülsen, Floskeln und Phrasen nicht nur Leerformeln, sondern ursprünglich Lehrformeln sind. Ionesco entnahm sie dem Unterrichtsbuch „Englisch ohne Mühe“, nach dem er selbst Englisch lernte, und dabei absurden Sätzen wie „Die Decke ist oben, der Boden ist unten“ begegnete, die er dann Mr. Martin in den Mund legte. Selbst die Figuren des Stücks, die Ehepaare Smith und Martin und das Dienstmädchen Mary entstammen dem Lehrbuch, in dem sie sich gegenseitig mit all ihren Lebensdaten vorstellen, denn das ist sinnvoller Lernstoff, im Stück allerdings Nonsens.
Ionesco machte diesen Unsinn zum Sinn seines Stückes und wurde damit zu einem der Begründer des Absurden Theaters. Die kahle Sängerin - von ihm selbst als Anti-Stück bezeichnet – wurde im Théatre de la Huchette in Paris seit 1957 mehr als 17000 Mal aufgeführt.)