Die Wunden nach dem falschen Bruderkrieg
Nun, die Geschichte vom Tantalidenfluch erzählt diese grausam aktuelle Version der Orestie nicht, auch wenn der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine seit vielen Generationen immer wieder eskaliert. Der Vergleich mit dem antiken Mythos hakt an der einen oder anderen Stelle. Aber die Familienkonstellation in Tamara Trunovas Überschreibung ist die gleiche wie bei Agamemnon, Klytämnestra und Aigisth. Wir schreiben das Jahr 2029. Der Krieg ist vorüber. Ob es einen Gewinner gab? Gewinner gibt es selten in einer kriegerischen Auseinandersetzung, aber zumindest hat das überfallene Land den Krieg nicht verloren. Putin ist tot, die Ukraine Mitglied von EU und NATO. Auf der ukrainischen Halbinsel Krim tritt der Erste Intereuropäische Gerichtshof zusammen.
Verhandelt wird gegen Orest Horets, einen aufrechten ukrainischen Kämpfer, vielleicht gar einen Kriegshelden, der sich selbst der Gerichtsbarkeit stellt, nachdem er seine Mutter und seinen Onkel getötet hat. In einem körnigen Video sehen wir die Vorgeschichte: Freudlos sitzt Friederike Wagner als Mutter Kateryna ihrem neuen Lebensgefährten, dem russophilen Bruder ihres Mannes gegenüber, der sie schikaniert, erniedrigt und zur Benutzung der russischen Sprache zwingt. Da kommt - kriegsversehrt, aber mit einem ukrainischen Orden ausgezeichnet - Orests Vater zurück. Die beiden Männer verlassen nach kurzem feindseligem Wortwechsel den Raum. Aus dem Off hört man Geräusche einer Klopperei. Es ist der Sound des Mordes.
Der ukrainische Agamemnon ist tot. Die Drehbühne rotiert. Auch den heranwachsenden Jungen haben wir schon kennengelernt, als er völlig verängstigt und keuchend vor dem Eisernen Vorhang stand. Jetzt befindet er sich mit seinem Vater in der Kulisse einer Ausgrabungsstätte - in weißen Gewändern vor den weißen Ruinen eines antiken Mykene. Das Land der Griechen mit der Seele suchend, aber gedanklich in der Ukraine erklärt Vater dem Sohn die Bedeutung der Hymne und die Wichtigkeit von Wertschätzung, Freiheitsrechten und Patriotismus: „Shtshe ne vmerla Ukrajiny i slaya, volia“ - „Noch sind weder Ruhm noch Freiheit der Ukraine verstorben“, heißt es in der ukrainischen Nationalhymne. Jürgen Sarkiss als Vater Ivan trifft den Ton zwischen Pathos und geduldigem Lehrer perfekt; ganz kurz denkt man sogar an den Tod des Sokrates, wie er von Platon beschrieben wurde: Sokrates agiert noch in der Stunde seines Todes als Lehrer, der seine Schüler zur Genauigkeit des Denkens führen will. Auch das deutsche Publikum wird durch den Vortrag von Sarkiss zur Reflexion angeregt: Eine gewisse Irritation stellt sich ein, werden doch patriotische Verhaltensweisen hierzulande von weiten Teilen der Bevölkerung eher kritisch betrachtet. Natalka Vorozhbyt lässt in ihrem am Schauspiel Essen uraufgeführten neuen Stück „Non-existent“ (siehe hier) eine ihrer Figuren sagen, eine solche Haltung sei ein Zeichen für ein erfolgreiches Land - man könnte wohl auch sagen: für ein dekadentes. Im Düsseldorfer Schauspielhaus besteht etwa die Hälfte des Premierenpublikums aus ukrainischen Zuschauerinnen und Zuschauern - für sie ist Patriotismus derzeit unabdingbar für die Hoffnung auf ein Überleben ihres Staates im russischen Angriffskrieg.
Es wird noch häufiger Szenen geben, die sich vorrangig an diese Hälfte der Zuschauerschaft richten. Manches ist zugegebenermaßen Propaganda, nahe schon am Agitprop, aber solche Szenen fordern auch das deutsche Publikum auf, sich mit der Situation und der Denkweise eines überfallenen, seiner Heimat beraubten Volks zu beschäftigen. Mit ganz einfachen Worten versteht Sarkiss‘ Ivan seinem Sohn die Gefühlslagen im Konflikt zweier angeblicher Bruderstaaten zu erläutern. Der Chor der Erinyen, bestehend aus fünf geflüchteten ukrainischen Frauen, setzt erstmals ein. Er wird für diese verschiedenen Gefühlslagen stehen: für Wut und Verzweiflung - und für trotzigen Humor. Auch wenn die Aufführung sehr temperamentvoll daherkommt, liegt eine große Trauer über der Inszenierung, die durch die Chorgesänge der ukrainischen Erinyen oft die Wirkung eines Requiems erhält.
Jürgen Sarkiss legt die antiken Gewänder ab, trägt nun Kleidung wie Selenskyi und spricht Worte aus Aischylos‘ Orestie. Nur durch die Parallelführung mit dem antiken Stück, das sein Pathos mit großer Poesie verbindet, funktioniert die zeitweilig arge Theatralik und Inbrunst der modernen ukrainischen Kriegserzählung. Auf sich allein gestellt wäre deren Pathos kaum tragfähig - so aber wird sie eindringlich. In ihrem Mittelpunkt steht die Gerichtsverhandlung gegen Orest, die aber immer wieder von Rückblenden und von Erzählungen der geladenen Zeugen sowie der ukrainischen Chorfrauen unterbrochen wird. Berührend erzählt Sophie Stockinger als junges Mädchen vom Abschied und Tod ihres Vaters, von der Sehnsucht, ihn irgendwann zurückkehren zu sehen in die heimische Küche mit der wohlbekannten Frage auf den Lippen: „Trinken wir jetzt einen Kaffee?“ Alltag wird für diejenigen, die den Krieg mittel- oder unmittelbar miterlebt haben, viele Jahre lang nicht eintreten: Soldaten - so auch der um einen gerechten Richterspruch bittende und durch diesen sich wohl die Erlösung seiner gepeinigten Seele erhoffende Orest - kehren traumatisiert in ein „zerrüttetes Elternhaus“ zurück; Frauen haben den Verlust ihrer Männer, die Angst um ihre Familienangehörigen, aber auch Erpressung und Vergewaltigung zu verkraften. Richterin Margarethe Bauer (vielleicht nicht zufällig auf den gleichen Hausnamen hörend wie der nazijagende Staatsanwalt Fritz Bauer nach dem Zweiten Weltkrieg) hat noch schwierigere Fälle zu lösen als den des Orest: Was tun zum Beispiel mit einer Mutter, die zur Kollaboration mit dem Feind gezwungen wurde unter dem Vorwand, nur so werde sie ihre Kinder lebend wiedersehen? - Und tief unter die Haut geht Vitalina Biblivs verzweifelter Ausruf, als ihre Maria Maistruk im Zeugenstand um ihre Erinnerungen gebeten wird: „Ich muss mich an nichts erinnern - ich kann ja nichts vergessen!“ - Sie, die tiefgläubige Nachbarin, ist es allerdings wohl auch, die in Aischylos‘ Orestie die Fortsetzung des Tantalidenfluchs für ein paar weitere Genrationen befördern würde.
„Der Krieg reduziert den Menschen. Er entzieht ihm seine Komplexität“, heißt es einmal mit einem der vielen Merksätze, die diese Aufführung bereithält. Gut, dass 2029 der Krieg schon vorbei ist. Denn es ist gerade ihre Komplexität, mit der die Inszenierung überzeugt. Rückblenden, verschiedene Spielebenen zwischen antiker und zeitgenössischer Orest-Familie, Berichte der ukrainischen Geflüchteten, politische Reflexionen (auch mit selbstkritisch-ironischem Blick auf die in der Ukraine grassierende Cancel Culture im Hinblick auf alles Russische, selbst auf Puschkin und Tschaikowski), die großartige Musik der seit vielen Jahren in Deutschland lebenden Ukrainerin Mariana Sadovska - all das wird von Regisseur Stas Zhyrkov zu einer nicht unanstrengenden, aber ausgesprochen gelungenen Komposition verwoben.
Das alles geht sehr nahe, und ist im Grunde nur auszuhalten, weil der harte Tobak ab und zu mit ein paar Shakespeare’schen Narrenszenen kontrastiert wird: mit einer sehr heutigen, dem Privatfernsehen entsprungen scheinenden Gerichtsreporterin (Pauline Kästner), mit einer Diskussion über ukrainisches Tinder in Zeiten von Frauenüberschuss und Dick Pics, einem telefonischen Ehestreit der Vorsitzenden Richterin (überzeugend als Karriere-Frau und gleichzeitig wie die Staatsanwältin und die Verteidigerin mit Timoschenko-Zopf: Claudia Hübbecker). Der alte Meister Schüttelspeer liefert da immer noch Handlungsempfehlungen für die Auflockerung allzu schwerer Stoffe, doch gab es später viele Stimmen aus dem Publikum, die auf die komödiantischen Szenen gerne verzichtet hätten.
Aber was soll’s? Die kleinen Schwächen der Aufführung und des Plots fallen angesichts der Wucht der Inszenierung und der Suggestionskraft der Schauspielerinnen und Schauspieler kaum ins Gewicht. Bis in die kleinsten Nebenrollen (als Beispiel sei Mila Moinzadeh als der als Zeuge geladene Polizist Renat Mametov genannt) weiß das Ensemble zu berühren, zu emotionalisieren und zum Nachdenken anzuregen - manchmal alles gleichzeitig. Die Geschichte von der Bruderliebe zwischen Russen und Ukrainern war stets ein Märchen, wie die Figuren des Stücks deutlich machen. Die Geschichte der Sowjetunion ist eine Geschichte von Kolonialismus. Um den ewigen blutigen Kreislauf zu beenden, bedarf es innovativer Methoden und neuer politischer Systeme. In Mykene wird am Ende der grausamen Mordserie unter gütiger Mithilfe der Göttin Athene mit einem unabhängigen Gerichtsverfahren der Schritt zur Demokratie vollzogen. Auch nach dem Ukraine-Krieg wird es nur Frieden geben können, wenn die autokratische Herrschaft ebenso an ein Ende gelangt wie die in beiden Ländern herrschende Korruption.
Das Gericht, das in Düsseldorf über Orest Horets urteilt, macht das unmissverständlich klar. Dass Orest von seiner Schwester Svitlana (ebenfalls Sophie Stockinger) verteidigt wird, nimmt es mit hochgezogenen Augenbrauen zur Kenntnis: Das sei „nicht unzulässig, aber sus“. Orest, vielschichtig und differenziert gespielt von Jonas Friedrich Leonhardi, gehören nicht grundlos viele Sympathien. Aber er wird nach dem Gesetz verurteilt. „Nach dem Gesetz“ - Claudia Hübbecker als Richterin betont diese drei Worte: Die Richterin weiß um den Gewissenskonflikt des Angeklagten, um die Zwickmühle, in der er sich befand, um die Wut auf russophile Kollaborateure, deren Verhalten im Krieg Millionen von Menschen das Leben gekostet hat. Wir dürfen jetzt über das Strafmaß spekulieren. Aber der neue Staat, der neue Intereuropäische Gerichtshof hat seine Unbestechlichkeit bewiesen. Wie heißt es so wahr in einem weiteren Merksatz der Inszenierung: „Die barbarische Gesellschaft regiert durch Angst. Die zivilisierte Gesellschaft regiert durch Gesetz.“