Übrigens …

A Mother's Heart im Schauspielhaus Düsseldorf

Liturgie mit Adolf und Vladimir

In einem - zumindest scheinbar - alten Video führt eine endlos lange, menschenleere Straße durch einen Wald. So beginnen Filme, die sich dokumentarisch oder als Dokufiction mit der Nazizeit beschäftigen. Tatsächlich hören wir vom Band eine Passage aus dem Münchner Abkommen von 1938, das die Grundlage für die Zerschlagung der Tschechoslowakei bildete. Ist das eine düstere Zukunftsvision des ukrainischen Theater-Teams für den Fall, dass das westliche Europa eines Tages ein Abkommen zu Lasten des überfallenen Landes zur Wiederherstellung des Friedens mit dem russischen Aggressor schließt?

Die Ähnlichkeiten zwischen der Eroberungsstrategie des nationalsozialistischen Deutschen Reichs und des heutigen Russland sind jedenfalls frappierend. Die Rundfunkansprachen von Vladimir Putin vom 24. Februar 2022 und von Adolf Hitler vom 1. November 1939 werden gegeneinander geschnitten. Inhaltlich gleichen sie einander wie ein Ei dem anderen - bis hin zu den empörenden Lügen über die angeblichen erfolglosen Friedensbemühungen der beiden Aggressoren, die diese im Vorfeld des Krieges unternommen haben wollen. Auch deren Kulturimperialismus ist kaum voneinander zu unterscheiden: Geschichte wiederholt sich doch. - Dann irgendwann werden die historischen Texte in Vlad Troitskyis Inszenierung in einem Rauschen erstickt. Tetyana Troitska, die Gattin des Regisseurs des heutigen Abends, betritt die Bühne. Aus den Requisiten baut sie einen Gartenzaun. Im Video fliegen Flugzeuge einen Angriff. Bald wird eine Explosion den Gartenzaun wieder zerstören.

Wenig überraschend sind die Themen der Gastspiele beim Festival „Fokus Ukraine“ im Düsseldorfer Schauspielhaus stets die gleichen: der russische Angriffskrieg, Fluchterfahrungen, Gewalt, Trennung von Männern und Kindern, Vergewaltigung als Kriegswaffe, Folter und Tod. Aber wie sich alles ineinander verschränkt! Bei „HA:L:T“ (Rezension demnächst) wird ein ukrainisches Volkslied zitiert, das wir bereits in einer früheren Aufführung gehört haben. Heute, am zweiten Festivaltag, gibt es andere Wiederkennungs-Momente. Betörend ist der lautmalerisch anmutende Gesang der wunderbaren Mariana Golovka, der schon zwischen den einzelnen Begrüßungsreden anlässlich der Eröffnung des Festivals „Fokus Ukraine“ im Düsseldorfer Schauspielhaus erklungen war und mit seiner überirdischen Schönheit die meisten Reden in den Schatten gestellt hatte. Golovka, die sonst unter anderem als Solistin der zeitgenössischen, mit neuer ukrainischer Musik experimentierenden Formation „Nova Opera“ auftritt, begleitet jetzt mit vokalen Klängen die Klagen der Mütter in Troitskyis Produktion „Mutterherz“ (in Düsseldorf unter dem internationalen Titel A Mother’s Heart angekündigt). Troitska trägt performativ Briefe und Tagebucheinträge ukrainischer Mütter vor, die diese seit Beginn des Krieges an ihre Söhne an der Front geschrieben haben. Es sind Briefe voller Erinnerungen, voller Ängste und voller Hoffnungen - Erinnerungen an die Geburt und die Kindheit der Söhne, die heute im Krieg täglich der Todesgefahr ausgesetzt sind, Ängste und Unsicherheiten angesichts der Möglichkeit, dass diese Söhne niemals aus dem Krieg zurückkehren werden. Der Tisch zu Hause ist noch reich gedeckt mit Käse, Wein und Brot, aber auch die Geschichte des Holodomor, als Russland in den 1930er Jahren durch die Herbeiführung einer Hungersnot schon einmal zur Auslöschung der ukrainischen Kultur ansetzte, wird angedeutet: „Weißt du, warum die Großmutter immer die Brotkrumen vom Tisch aufsammelte?“, schreibt die Mutter an ihren Sohn. „Sie wusste, wie dieser Abschaum das Volk aushungerte.“ Später wird Russland einmal mit einem Kannibalen verglichen, der die Menschen überfällt und sich anschließend als Beschützer geriert. Aber nicht nur Wut und Abscheu spricht aus den Texten der Frauen - in manchen (zugegebenermaßen seltenen) Momenten begegnen sie ihren Ängsten auch mit einem erstaunlichen Galgenhumor.

Wiedererkennungswert haben an diesem Abend auch die Videoanimationen von Sofiya Melnyk. Ihre Ästhetik kennen wir bereits aus dem Kurzfilm „Mariupol. A Hundred Nights“, der an den beiden Eröffnungstagen an die Fassade des Düsseldorfer Schauspielhauses projiziert wurde. Einige Bilder dieses Kurzfilms finden sich originalgetreu in Vlad Troitskyis Inszenierung wieder. Es sind nahezu comicartige Bilder von brennenden Häusern, von rollenden Panzern - stumm und voller Trauer. Denn im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Wut und Trauer unterscheidet sich „A Mother’s Heart“ von den am Eröffnungstag gesehenen Produktionen: Waren „A Song for Wartime“ (siehe hier) und „Shatter this Rock“ (siehe hier) laut und extrovertiert, so ist A Mother’s Heart ein ganz leiser, fast kontemplativer Abend. Wie bei „A Song for Wartime“ werden Schlaf- und Volkslieder gesungen, aber sie werden nicht hart skandiert, sondern eher unauffällig und leise vorgetragen. Musikalisch bleiben vor allem die Klangkompositionen hängen, die die Texte begleiten und dem Abend immer wieder den Charakter einer Liturgie verleihen.

Tatsächlich ist der Abend auch eine große Trauerfeier - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. „Mutter, weine nicht“, heißt es in einem Brief. „Mein Krieg ist heute zu Ende gegangen. Ich kehre nach Hause zurück.“ Der Sohn ist gefallen. Tetyana Troitska hat an einen langen Tisch für viele Gäste gedeckt. Doch niemand wird zur Trauerfeier kommen. Einsam sitzt die Mutter am Kopfende eines endlos langen Tisches. Das Bild erinnert an die Audienzen des russischen Präsidenten. Bei Putin wirkt das grotesk, bei Troitska anrührend. Die hatte sich zuvor an Gott gewandt: „Im Paradies quälen die Menschen einander sicher nicht“, hatte sie gehofft. Und Gott sprach: „Bist du sicher, dass dort Menschen sind?“