Übrigens …

Green Corridors im Schauspielhaus Düsseldorf

Das große Warten

Die schwarze Bühnenrückwand ist wie nach vorne geschoben, davor stehen im Halbdunkel schon während des Einlasses vier Frauengestalten, dazwischen ein paar Koffer.

Sobald das Saallicht ausgeht, ertönt Livemusik und um eine nach der anderen Figur herum wird der schwarze Hintergrund weiß straffiert, dazu erscheinen in ausladender Schrift Infos zur Person, zur Rolle im Stück. Sofiia Melnyk ist die Live-Zeichnerin, die mit ihrem Tablet auf der Bühne sitzt und uns die Vier vorstellt und anschließend das gesamte Stück illustriert, auch mal kommentiert: mal weiß, mal mit kräftigen Farben, immer rasant, spritzig, ganz gleich, ob Möbel oder Tiere in Strichzeichnungen auftauchen, oder eine ganze Menschenkolonne auf der Flucht als weiße Schatten über den gesamten hinteren Bühnenraum gleitet.

Die Frauen lösen sich von der Wand: da ist Julia Slepneva als leicht irre Katzenfreundin, die unter ihrem dicken weißen Pelzmantel mindestens ein Tier über die Grenze bringen will, sowie die aus Butscha entkommene Nageldesignerin, ergreifend gegeben von Tanya Kargaeva. Und schließlich Maryna Klimova, die mit zwei großen Koffern beladen temperamentvoll eine fest entschlossene Hausfrau und Mutter von drei Kindern gibt. Sie alle drei sind ukrainische Schauspielerinnen, deren Bühnenfiguren namenlos bleiben, sie stehen mit ihren dargestellten Schicksalen für unzählige Ukrainerinnen, für Menschen im Transit, in der Wartezone zu einem neuen, wenn auch vorübergehenden Lebensabschnitt. Da brechen Konflikte auf, die weit in die Geschichte hineinreichen und auch mal zu Streit und Totschlag führen.

Noch stehen die Frauen auf der Bühne in der Warteschlange vor der Grenze und treffen auf Anton Berman, der eigentlich das Stück mit Live-Musik begleitet, jetzt aber mal eben in die Rolle des Grenzbeamten schlüpft und von unserer Hausfrau aus Charkiw mit den drei (unsichtbaren) Kindern die schriftliche, notariell beglaubigte Erlaubnis des Kindsvaters zu deren Ausreise verlangt. Das Argument, dass Vater und Notar gerade im Schützengraben unerreichbar seien, nützt nichts. Der Beamte bleibt stur. Doch als die clevere Frau ansetzt, dem Kleinsten auf dem Schaltertisch die Windeln zu wechseln, winkt er sie schnell durch mit ihrer Bagage. Eine der vielen schwarzhumorigen Szenen in diesem im Ansatz so ernsten Stück. Eher zum Weinen als zum Lachen ist eine spätere Szene, in der unsere Hausfrau mit ihrem fernen Ehemann per Skype Fernsex hat, urkomisch das Ganze, bis der Soldat beim Höhepunkt von einer Rakete getötet wird. Tiefschwärzer geht es nicht.

Als letzte in der Warteschlange ist da noch die grandiose Svetlana Belesova, in bizarrem roten Lederoutfit eine wahre Kunstfigur. Sie stellt sich als Schauspielerin vor, die nicht wirklich auf der Flucht ist, die tatsächlich noch nichts Schlimmes erlebt hat, wohl aber „alles spielen kann“. Mit ihrer Arroganz nervt sie die anderen und wird dafür büßen müssen.

Belesova kam schon 2007 aus der Ukraine nach Deutschland, spricht fließend Deutsch (auch Englisch und Französisch, was sie gelegentlich einfließen lässt), gehört zum Ensemble der Münchner Kammerspiele, für die die Autorin Natalka Vorozhbyt - selbst Ukrainerin mit Fluchterfahrung - das Stück als Auftragsarbeit schrieb.

Vorozhbyt ist neben Dramatikerin auch preisgekrönte Filmemacherin, was in den gleichsam knapp geschnittenen historischen Szenen im Stück durchscheint. Vorher taucht da allerdings noch der pfiffig aufgekratzte André Benndorff auf, der als Ukrainer mit kanadischem Zweitpass mühelos die Grenze passieren kann. Als Filmer dreht er mit Belesova die historischen Einschübe, nebenher betreibt er aber noch einen einträchtigen Hundehandel mit reinrassigen Spitzen, die er im Kriegsgebiet einsammelt und jenseits der Grenze gewinnbringend verkauft. Eine groteske Randerscheinung der Kriegswirren.

Ansonsten macht er ernsthafte Filme, in denen Belesova gleich dreimal das Opfer historischer Polit-Morde spielt: an der Dichterin Olena Telina, dem Komponisten Mykola Leontowytsch und dem Nationalistenführer Stepan Bandera. Absurd allerdings, dass das Opfer in den Filmszenen auch in der Bühnenrolle mehrere Tode sterben muss: gleich mehrfach wird sie totgeprügelt, vorgegeben, weil sie in russischen Serien mitgespielt hat, in Wahrheit aber wohl auch, weil man sie einfach nicht mag, die so ganz andere unter den Geflüchteten.

Zu einer erschütternden letzten Szene vor der Betonwand kommt es mit der bis dahin ziemlich stillen Tanya Kargaeva als Nageldesignerin, die nach einem Wutausbruch gegen die Wand ganz still wird und berichtet, wie sie tagelang von russischen Soldaten vergewaltigt wurde und nur knapp deren Mordversuch entkam. Die Täter sperrten sie nach der Gräueltat in einen kleinen Raum und zündeten die Matratze an, auf der sie lag, bevor sie flohen. Die Matratze aber war feucht, sie brannte nicht. Kargaeva tippt nur mit einem Finger gegen die Wand, die senkt sich ganz langsam nach hinten zu Boden und gibt für den zweiten Teil der Geschichte den ganzen Bühnenraum frei: vielleicht das freie Europa. Kargaeva richtet sich ans Publikum - jetzt mit dickem Schwangerenleib: „Ich bin sehr dankbar, dass sie helfen und dabei Fremde bleiben.“ Ein Satz, der das Motto des Stücks sein könnte: Diese Frauen bringen uns das Schicksal der Kriegsopfer ganz nahe und halten doch sinnvolle Distanz.

Im freien Raum wächst die Hoffnung der Protagonistinnen auf Rückkehr in die Heimat. Noch einmal schlüpft Belesova in eine Filmrolle: als Milla Jovovich aus dem Film „Das fünfte Element“ hilft sie den Frauen mit futuristischen Waffen in der Hand den Weg in die Freiheit zu finden.

Dem Regisseur Jan-Christoph Gockel gelingt es meisterlich, die Wucht und Sensibilität des Textes gleichermaßen auf die Bühne zu bringen. Unglaublich, wie der Wechsel zwischen Berührung und Amüsement ganz unverkrampft geschehen kann. Dabei wechselt auch die Sprache ganz unaufgeregt vom Deutschen ins Ukrainische (mit den jeweiligen Übertiteln). Gegen Ende allerdings sprechen auch die Ukrainerinnen immer mehr Deutsch: mehr und mehr kommen sie auch sprachlich an und nehmen ihr Leben selbst in die Hand auch gegen den kläglichen Auftritt der peinlichen Besserwisserin als Vertreterin aller selbstgerechten Gut-Menschen (schön hysterisch gegeben von Johanna Eiworth).

Das Publikum dankte mit Standing Ovation.