Der nicht gespielte „Hamlet“
Die Aufführung, die die Zuschauerinnen und Zuschauer am 4. Tag des Düsseldorfer Ukraine-Festivals zu sehen bekommen, beginnt als Publikumsgespräch über eine Aufführung, die niemand je gesehen hat. Niemand aus dem Düsseldorfer Publikum, und auch niemand sonst: Sie kam niemals zustande. Das Left Bank Theatre aus Kiew, ein Haus, das sich eigentlich dem experimentellen Theater verschrieben hat, wollte sich an Hamlet wagen. Als Termin für den Beginn der Proben war der 24. Februar 2022 ins Auge gefasst worden. Doch an diesem Tag kamen Putins Söldner und zerschossen die schönen Pläne. Aus HAMLET wurde HA:L:T - ein ziemlich abrupter Stopp. Das M und das E fehlen nun im Titel der Aufführung: „HAMLET without ME“, soll Regisseurin Tamara Trunova dazu gesagt haben, Hamlet ohne das Left Bank Theatre. Aber irgendwie dreht sich die Aufführung trotzdem noch um den Dänenprinzen, ab und zu zumindest. Dann ist es ein Hamlet auf der Meta-Ebene.
Zunächst aber beginnt Oleh Stefan locker-flockig und sehr down-to-earth ein Publikumsgespräch. Nach und nach schlendern die übrigen Akteure auf die Bühne, Stefan stellt sie vor. Vor allem „Ophelia“ Iryna Tkachenko ist aufgedreht, als habe sie einen Adrenalinschub nach soeben beendeter Aufführung. Gut gelaunt schäkert man ein bisschen mit den Zuschauerinnen und Zuschauern und reizt sie zum Lachen. Textlastig ist das – und textlastig wird die Inszenierung während der gesamten Spieldauer bleiben. Wer wie der Schreiber dieser Zeilen der ukrainischen Sprache nicht mächtig ist, bekommt trotz der Übertitelung manche Wendungen und Pointen nicht mit. Aber immer häufiger gibt es Widerhaken: gewollt missverständliche Aussagen wie der metaphorisch gemeinte Spruch über die mutmaßlich gespaltene Persönlichkeit von Hamlets Mutter Gertrud (hier: Kateryna Kisten): „Manchmal ist es unmöglich, nur sympathisierende Partei zu sein. Manchmal landen Trümmer auf dem Nachbargrundstück.“ – Betretenes Schweigen im Parkett. Denn natürlich denkt man bei diesem Satz nicht an Hamlets und seiner Mutter Persönlichkeitsstrukturen, sondern an den aktuellen Krieg.
Handgestoppte 24 Minuten dauert dieses Vorspiel auf dem Theater. Dann erst geht im Parkett das Licht aus und blutrote, feuerrote Weihnachtsbäume signalisieren, dass der Traum vom Frieden, in dem man einen Shakespeare noch in Unschuld spielen kann, längst ausgeträumt ist. Und doch tritt nun erstmals Hamlet persönlich in Erscheinung: „Wie ekel, schal und flach und unersprießlich scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!“ – Wieder und wieder werden Hamlet-Texte im Original oder in modernisierter oder umgearbeiteter Form zitiert: Was Shakespeare schrieb, wird automatisch zum Kommentar auf den Ukraine-Krieg, und sei es, indem Hamlets Zaudern umgedichtet wird in eine heutige Gedankenwelt: „Halt ich mich raus, so werde ich verachtet.“ Oder: „Und Hunderttausende gehen in den Krieg und wissen nicht, warum!“ – „Hab‘ ich doch Willen anzuführen ein Heer von solcher Kraft und Stärke!“ Auch Hamlets berühmte Monologe werden angerissen – und reflektiert im Spiegel der aktuellen politischen und militärischen Situation.
Von der komödiantischen Spielweise zu Beginn geht es über umgedichteten Shakespeare ganz explizit in die kriegerische Gegenwart mit ihren Alpträumen, Traumata und Zögerlichkeiten. Die Illusion vom Publikumsgespräch nach einer gelungenen Hamlet-Vorstellung ist vorbei. Ohnehin war bei dem fiktiven Künstlergespräch ein Stuhl frei geblieben. Er war reserviert für Vova. Der ist jetzt bei der Soldaten- statt bei der Schauspieltruppe und grüßt per Video von der Front. Ein anderer Freund der Schauspieler, ein Opernsänger, ist bei der Verteidigung von Mariupol gefallen. In einer Animation fliegt eine Friedenstaube im Tarnanzug über die Videowand und küsst eine andere Taube - ihren Gegner? "Nicht du, nur dein Name ist mein Feind", wird aus Romeo und Julia zitiert. Verschiedene Formen des Theaterspiels kommen zum Einsatz; einzelne Szenen werden gar in nahezu altmodisch-pathetischer Tragöden-Manier performt. Ein ukrainischer Volkstanz gerät zu einem zeitlupenartigen Totentanz.
Es gibt noch eine dritte Ebene in dieser Inszenierung. Zitate aus der Literatur und der Kunstgeschichte, Gleichnisse von der Konfrontation zwischen Spanien und den Niederlanden zur Zeit der Inquisition, Geschichten über den chinesischen Philosophen Zhuangzi (4. Jh. v. Chr.), der als einer der Hauptvertreter des Daoismus gilt, geben der Aufführung einen intellektuelleren Anstrich als die meisten vorherigen Abende des Festivals ihn hatten. Das Gemälde "Der Blindensturz" von Pieter Bruegel d. Ä. wird erläutert als eine Warnung an die Menschheit, nicht den falschen Weg einzuschlagen. Und mit einem zynischen Schlag in die Magengrube werden die Touristenattraktionen vorgeführt, die die Ukraine derzeit zu bieten hat: ein blutiger Teddybär, eine abgerissene Hand an einem Koffer, ein Ausflug nach Butscha zum Schnäppchen-Preis. Die roten Weihnachtsbäume rücken in Richtung der Rampe vor. „‘til Birnam Wood will come to Dunsinane“, heißt es in Macbeth: Als der Wald von Birnam sich in Bewegung setzt, ist das bei Shakespeare das Ende des Tyrannen. Vielleicht soll das Bild der marschierenden Weihnachtsbäume Mut machen, Hoffnung geben auf ein Ende Putins und einen Sieg der Ukraine.
Die Arbeit von Tamara Trunova, die in Personalunion als Autorin und Regisseurin des Werks fungiert, ist durchdacht, strukturiert und intellektuell anspruchsvoll. Leider ist das Stück zumindest für ein fremdsprachiges Publikum deutlich weniger zugänglich als die Arbeiten, die wir zuvor beim Festival sahen – und es scheint auch weniger elaboriert gespielt. Auf ein ukrainisches Publikum, das sicherlich wesentlich mehr Feinheiten des Texts und der Spielweise erspüren kann, mag das jedoch ganz anders wirken. Man ist jedenfalls dankbar, wieder eine neue Farbe des ukrainischen Theaters entdeckt zu haben.