Übrigens …

Mothers – A Song for Wartime im Schauspielhaus Düsseldorf

Die Schwalbe und die Liebe geben Hoffnung

Ein kleines, etwa neun- oder zehnjähriges Mädchen eröffnet den Abend. Hoffnung ist ein kleiner Vogel, der den Menschen Freude macht, erzählt sie. Und dann berichtet sie von dem alten ukrainischen Volkslied von der Schwalbe, die einem Bauern seinen Reichtum verkündet, nachdem seine Schafe viele neue Lämmer geboren haben. „Schtschedryk“ heißt das Lied, das übrigens die Grundlage für das mit neuem Text versehene englische Weihnachtslied „Carol of the Bells“ ist und mit dessen Gesang man den Menschen Gesundheit, Glück und Wohlstand wünscht. Gesundheit, Glück und Wohlstand – nichts braucht das unter einem kolonialistischen Angriffskrieg leidende Land der Ukraine mehr. 20 Frauen um das Mädchen herum stimmen die Melodie des Liedes an. Marta Górnicka steht im Publikum und dirigiert.

Man kennt das mittlerweile von den circa einstündigen hochpolitischen Inszenierungen der polnischen Regisseurin: Sie steht inmitten der Zuschauer und agiert als Dirigentin eines formstrengen Wortkonzerts, performt von herausragend gecasteten und choreografierten Laiendarstellerinnen und -darstellern. Diesmal besteht ihr Schauspielerinnen-Team aus 21 Müttern und Kindern aus Polen, Belarus und der Ukraine, die Texte und Lieder zu verschiedenen Aspekten des Krieges im Allgemeinen und des russisch-ukrainischen Krieges im Besonderen skandieren. Wie es für das gesamte Festival Fokus Ukraine am Düsseldorfer Schauspielhaus programmatisch ist, steht der Blickwinkel der vom Krieg betroffenen Frauen im Vordergrund der Aufführung. Es geht um Traumata und Tod, um Liebe und Verlust, um sexuellen Missbrauch als Kriegswaffe. Der noch nach Generationen spürbare Einfluss von Vergewaltigungen nimmt die zentrale Rolle in der ersten Hälfte der Aufführung ein. Während einige Passagen des Texts von Wut und Vorwürfen dominiert werden, werden die Funktion von Trauma und Verdrängung und das Auftreten von kognitiven Dissonanzen in durchaus wissenschaftlicher Diktion erklärt. Es geht darum das Grauen zu verdrängen, es unwiderruflich aus dem Körpergedächtnis und dem Gehirn des Opfers zu löschen. Genau das Gegenteil bezwecken die meist in der Öffentlichkeit, oft auch vor oder gar an Kindern ausgeführten Vergewaltigungen: Sexueller Missbrauch als Kriegswaffe – das bedeutet auch, so viele Opfer wie möglich in den Strudel von Angst, Trauma und seelischer Verödung hineinzureißen. Auch Zeugen können da zu Opfern werden.

Auch Europa brauche eine Therapie, skandiert der Chor der Frauen in künstlerisch beeindruckender Form. Europa habe ein Kriegstrauma. Dennoch werfen die Frauen Europa – mutmaßlich vor allem der EU – Zögerlichkeit bei der Einmischung oder zumindest bei der Unterstützung der überfallenen Kriegspartei vor. Natürlich hat die Inszenierung etwas Propagandistisches; manchmal gerät sie sogar in die Nähe von Agitprop. Aber selbst das ist bemerkenswert gut konsumierbar und trifft im Publikum auf große Resonanz.
Man denkt jedoch auch an die Worte von Michael Reitemeyer vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Kultur und Wissenschaft, der in seiner Rede zur Festival-Eröffnung eine Stunde vor Beginn der Aufführung die Begriffe Verlust und Verzeihung gegenüberstellte: „Was bedeutet Verlust, und wie geht Verzeihung?“ Selbstverständlich wird irgendwann der Augenblick kommen, in dem Frieden geschlossen wird und die so bitter verfeindeten Parteien einander verzeihen müssen. Valeriia Obodianska aus Irpin trifft in der einzigen Szene, in der das chorische Sprechen vorübergehend einer Individualisierung der Charaktere weicht, dazu eine bemerkenswerte Aussage: "Dieser Krieg lehrt mich lieben, weil ich keinen Hass mehr ertrage." Die Liebe steht am Ende der kraftvollen, wuchtigen Performance. Von ihr heißt es: "Du überfällst deine Opfer aus heiterem Himmel." Insoweit ist die Liebe wie der Krieg. Doch sie gibt Hoffnung wie die Schwalbe aus der Schtschedrywka.

Immer wieder werden die harten Rhythmen der Sprache kontrastiert von solchen „Liedern der Großzügigkeit“, von Kinder- und Wiegenliedern und ukrainischer Folklore, von Volksliedern, die eine heile, idyllische Welt beschwören. Die im Vorfeld geäußerte Vermutung des Schreibers dieser Zeilen, dadurch werde die Inszenierung weicher als frühere Górnicka-Aufführungen, erweist sich als unzutreffend. Selbst die Schlaflieder werden in unendlichen Wiederholungsschleifen skandiert, bis sie sich mit gewissem Grauen im Hirn des Zuschauers festkrallen. Das Lied für ein (seelischen oder physischen) Schmerz empfindendes Kind wird im Marsch-Rhythmus performt. Die stampfenden Beine der Performerinnen erinnern an die Stiefel von Soldaten; aggressiv klingt das abschließende "Gute Nacht." - „Die Rolle der Mütter, die Söhne für den Krieg produzieren, ist uns widerwärtig“, heißt es einmal. „Aber solange das Gemetzel nicht aufhört, wird unser Gesang nicht nachlassen.“